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Franz Liszts 200ter Geburtstag 2011

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    #31
    Annees de Pelerinage (II) Italien (1)

    Im zweiten Band, dem Land der Sehnsucht Italien gewidmeten Band der „Années...“ wird neben der Literatur die Malerei und bildende Kunst mit einbezogen.


    1. Sposalizio

    Liszts musikalische Italienreise eröffnet sehr eindrucksvoll mit einer Huldigung Raffaels, seines Gemäldes Vermählung der heiligen Jungfrau („Sposalizio“).
    Raffaels “Sposalizio” (Abb.):



    Liszt hatte dieses Bild bereits 1837 in Brera betrachtet, seine Bedeutung aber wohl erst später erkannt durch seine Freundschaft mit dem Maler Auguste Dominique Ingres (1780-1867), einem Klassizisten, der in der Kunstgeschichte seinen Platz hat nicht zuletzt durch seinen Streit mit Eugène Delacroix über die Bedeutung der „Linie“ in der Malerei. Ingres spielte nicht nur vorzüglich Geige und musizierte mit Liszt zusammen, sondern führte ihn durch die römischen Museen. In diesem Klavierstück huldigt Liszt der Raffael-Begeisterung der Romantik. Raffael, der Sanftmütige und Edle, verkörpert mit seiner hellen Freundlichkeit nicht nur den Antipoden zum finsteren und wilden Michelangelo, sondern vor allem das religiös „vergeistigte“ Wesen einer Malerei, die in zauberhafte Weise die „Sonne des Friedens“ über die Dinge ausbreitet, wie es bei Wackenroder und Tieck heißt, was sich jedem, der einmal ein Raffael-Gemälde im Original gesehen hat, sofort erschließt. Die Darstellung Marias im Besonderen verkörpert das geistige Bild „himmlischer Vollkommenheit“, eine Göttlichkeit, welche den Betrachter rühren und überwältigen soll, wie es wiederum bei Wackenroder und Tieck („Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“, 1797) zu lesen ist.

    Die „Sonne des Friedens“ – Liszts Klavierstück mit seiner kontemplativen Sinnlichkeit strahlt diese wahrlich aus. Der Hörer wird in eine Stimmung der „Andacht“ versetzt, die einerseits betörende Ruhe und Schönheit, aber auch Ergriffenheit, hymnische Extase, vermittelt. Maria und Josef stehen bei Raffael, einander zugeneigt, vor einem klassischen Tempel. Es wird so der Bezug hergestellt zur Antike und Liszt wird hier gewiss unter dem Einfluß Ingres den Geist Johann Joachim Winckelmanns (1717-1768) eingefühlt haben, der mit Blick auf die griechische Architektur und Plastik die Formel des Klassizismus, „edle Einfalt und stille Größe“, prägte. Das sollte der Interpret von Liszts Klavierstück nicht vergessen. Wenn man Liszts Klavierstück programmatisch interpretieren möchte wie Serge Gut es tut, dann kann man die Zuneigung von Maria und Josef in der harmonischen Vereinigung der beiden Hauptthemenkomplexe sehen, die sich zu einem gewaltigen Hymnus steigert, bevor die Musik in wahrlich verzaubernder Stille friedlich und freundlich endet.

    Die Biographen bemerken die Ähnlichkeit von Marias Gesichtszügen auf Raffaels Bild mit denen von Liszts Geliebter Marie d´Agoult. Liszt hat dieses Stück später für Orgel und Frauenstimmen umgeschrieben und im Mittelteil mehrfach mit einem >Ave Maria< versehen – dies war bei Liszt immer auch eine Anspielung auf „seine“ Maria. Das Bild der göttlichen, himmlischen Liebe in der Vermählung der Jungfrau Maria wird hier also mit der irdischen Liebe Liszts verschränkt. Heinrich Heine hat solche romantischen Identifizierungen ironisch thematisiert in seinem Gedicht „Im Rhein, im schönen Strome“, wo es in der letzten Strophe heißt:

    Es schweben Blumen und Engelein
    Um unsre liebe Frau;
    Die Augen, die Lippen, die Wängelein
    Die gleichen der Liebsten genau.

    Liszt, der dieses Heine-Gedicht vertonte, hat diese Zeilen bezeichnend ganz unironisch ernst genommen. Die romantische Ästhetisierung des Religiösen zu einem „Kunstgefühl“ umgibt nicht nur das Profane mit dem Schimmer des Heiligen, sie säkularisiert zugleich das Heilige: Poesie und Prosa, Alltägliches und Unalltägliches, werden eins.


    2. Il Penseroso

    Der Titel (eigentlich Il Pensieroso, „der Nachdenkliche“) bezieht sich auf Michelangelos Grabmal der Medici:

    Sculpture was Michelangelo's true calling and he regretted that he had not done more of it. He defined sculpture as the art of "taking away" not that of "adding on". See his brilliant sculptures and his obsessive sculpting process.


    und die folgende Inschrift von Michelangelo:


    Antwort


    Schlaf ist mir lieb, doch über alles preise
    Ich, Stein zu sein.. Währt Schande und Zerstören,
    Nenn ich es Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum wage nicht zu wecken. Ach! Sprich leise.


    Michelangelo Buonarroti (1475-1564)
    übersetzt von Rainer Maria Rilke


    Der schlafende Tote hat vom Elend der Welt zuviel gesehen und will nicht aufgeweckt werden, zieht die Totenstille dem Weltgetriebe vor. Liszts Klavierstück komponiert entsprechend sehr eindrucksvoll in Stein gemeißelte Gedanken, die im Bass wie versteinert leise daherschleichen, sich schlaftrunken und nahezu reglos um sich selbst bewegen in kühner Harmonik.

    3. Canzonetta del Salvator Rosa

    Oft ändere ich den Ort,
    an dem ich mich aufhalte;
    doch niemals werde ich meine Gefühle ändern;
    das Feuer meiner Liebe wird dasselbe bleiben,
    und auch ich bleibe derselbe.

    Liszt hat den italienischen Originaltext dem munteren Stück unterlegt zum Mitsingen. Man schrieb das Lied dem Maler Salvator Rosa zu, die Melodie stammt aber von Giovanni Battista Bononcini. Sein Inhalt ist eine Beschwörung des fahrenden Ritters und seiner Tugend der constantia: Der Abenteurer, mutig und lebenslustig, bleibt auch in der fremden Welt und ihren Turbulenzen, wo ihm immer Neues begegnet, sich selbst und seiner Liebe treu. Ist das etwa eine Metapher für den rastlos reisenden Virtuosen Liszt, der seine Gefühle zu seiner Geliebten daheim niemals vergisst?

    Kommentar


      #32
      Annees de Pelerinage (II) Italien (2)

      4. – 6. Drei Petrarca-Sonnette (Nr. 47, 104, 123)

      Nach der musikalischen Auseinandersetzung mit Malerei und bildender Kunst, dem Aufsammeln eines Brockens “musikalischer Prosa“, der schlichten Canzonetta, kehrt Liszt zur hohen Poesie und Literatur zurück: dreier Sonnette, in denen Petrarca, dem neben Dante wohl berühmtesten Klassiker der italienischen Literatur, der Liebe zu seiner angebetenen „Laura“ huldigt. Hierbei handelt es sich um Übertragungen dreier Lieder für das Klavier allein – also um „Lieder ohne Worte“. Liszt druckte die Gedichte in italienischer Sprache im Notentext ab, setzt also voraus, dass der Interpret mit ihrem Inhalt vertraut ist. Anders als bei den Liedern folgt hier die Nr. 104, das berühmteste von allen, „Pace non trovo“, „Den Frieden finde ich nicht“, der Nr. 47 nach. Nr. 47 ist eine Segnung der Wunder der Liebe, und zwar einer allumfassenden: Petrarca erteilt seinen Segen nicht nur den Stunden, in denen die Augen der Geliebten auf ihn gerichtet sind, sondern der ganzen Welt, die im Lichte dieser Liebe betrachtet wird. Sogar das Leid, das die Liebe bringt, wird in diese Huldigung eingeschlossen. Dagegen schildert Nr. 104 die zerstörerische Kraft der Liebe, welche die Seele in ein heilloses Chaos der Gefühle stürzt. In dem zauberhaften Sonnett Nr. 123 wird die Liebe zu einer von den Engeln gesandten Gabe, welche Ruhe und Frieden in die Welt einkehren lässt: die Natur verstummt in reiner Harmonie. Die letzte Strophe lautet in deutscher Übersetzung:

      Und so versunken war der Himmel von der Harmonie,
      Daß man kein Blatt am Zweig sich regen sah,
      So voll von Wohllaut waren Luft und Wind.

      Die Regungslosigkeit verdeutlicht Liszt am Schluss durch im ppp völlig statisch wiederholte Figuren, zuvor hatte Liszt die Musik in reine Klangpoesie aufgelöst mit höchst delikater, impressionistisch-farbenprächtiger Harmonik. Ich habe dieses Stück selber mit großem Vergnügen gespielt!

      Näher eingehen möchte ich auf „Pace non trovo“ – dazu ist es allerdings unerlässlich, sich mit der Liedversion auseinanderzusetzen.



      Petrarca-Sonnett 104 „Pace non trovo“

      Den Frieden find ich nicht und darf nicht kämpfen;
      Und fürchte, hoffe, brenne, werde Eis;
      Und schwing mich auf zum Himmel, liege am Boden;
      Fühl niemand mich verbunden und umarm die ganze Welt.

      So knechtet er mich, gibt mir weder Freiheit noch Ketten;
      Will mich nicht als sein eigen, doch löst die Bande nicht;
      Zwar tötet Amor nicht, doch gibt er mich nicht frei;
      Will nicht, dass ich lebe, und befreit mich nicht von meiner Mühsal.

      Ich lebe ohne Auge, hab keine Zunge und schrei auf;
      Sehne den Tod herbei und ruf um Hilfe;
      Mich ekelt vor mir selber, doch lieb ich andere!

      Der Schmerz erquickt mich, unter Tränen lach ich;
      Leben und Tod verdrießen mich in gleichem Maße
      Und dieser Zustand, Herrin, ist nur Eure Schuld!

      Petrarca beschreibt die Liebe hier als eine dämonische Naturgewalt, Amor nicht als niedliche Putte, vielmehr eine entsetzliche Furie, welche die Seele in Aufruhr bringt und zerrüttet. Das Subjekt verliert jeglichen Halt, weiß nicht mehr, wie ihm geschieht, weder ein noch aus. Nicht nur Ambivalenz, Widersprüchlichkeit ist der verwirrende Zustand der Liebe: Der Liebende fühlt sich zugleich erhitzt und zu Eis erstarrt, im Himmel und in der Hölle, einsam und von pantheistischem Allgefühl beseelt, gefesselt und doch wieder frei, stumm vor Schmerz und zugleich aufschreiend, den Tod herbeiwünschend und nach Hilfe rufend, treu und untreu in einem, den Schmerz zugleich genießend und die bitteren Tränen verlachend. Schuld daran ist der Gott der Liebe in Gestalt der „Herrin“, der von Petrarca angebeteten Laura. Bei all dem bleibt jedoch die Dichtung „gefasst“, wofür die strenge Sonnettform sorgt.

      Es zeigt sich nun, dass Liszts Vertonung genau diese Geschlossenheit des Sonnetts aufbricht. Musikalisch geschieht dies einmal durch die – freilich sehr frei gehandhabte – Form der Arie, welche die Gedichtform überlagert. Dafür spricht nicht zuletzt die Rolle des Klaviers. Es beginnt alleine mit sehr aufgewühlten, bizarren Akkorden, wie schroff in den Himmel ragende Gebirgszacken. Diese Einleitung des Klaviers wiederholt sich nach Abschluss der ersten Strophe. Erkennbar wird damit das für die Arie typische Wechselspiel Ritornell-Gesangssolo. Das Klavier vertritt hier gleichsam sehr „konzertant“ die Rolle des Orchesterritornells. Diese wird aber gleichwohl nur angedeutet und nicht fortgeführt – die folgenden Strophen bilden eine Einheit, das Klavier schiebt sich hier nicht mehr dazwischen. Der zweite Hinweis auf die Form der Arie ist die Schlusszeile In questo stato son, Donna, per Vui („Und dieser Zustand, Herrin, ist nur Eure Schuld!“), die musikalisch als Reprise der ersten Zeile des Gedichtes erscheint: Pace non trovo... Es ergibt sich so eine Liedform ABA mit der für die Da-capo-Arie typischen Raum für die freie Improvisation in der Reprise, von der Liszt am Schluss ausgiebig gebracht macht. Das Improvisieren auf der Schlusszeile gipfelt in einer raumgreifenden Kantilene, in der die bei Petrarca ungenannte „Laura“ beim Wort gerufen wird.

      Während die Sonnettform die Gegensätze nur Zeile für Zeile aneinanderreiht, ergibt sich in der Vertonung der ersten Strophe eine dynamische Verdichtung auf das Ende hin: In den ersten beiden Zeilen gibt die Vertonung die Antithesen des Textes sehr rhetorisch „wortgetreu“ phrasierend wieder. Das ändert sich jedoch mit der dritten: Die grollenden Klavierbässe erwecken tonmalerisch ein Bild des Aufruhrs. Gefühl steigert sich zum Überschwang, der Aufschwung zum Himmel wird dramatisch überhöht und die Umarmung der Welt zum Ausbruch von Verzweiflung. Die Schlusszeile, welche Pantheismus und soziale Vereinsamung kollabierend zusammenbringt, muss auf den in seiner Seele zutiefst vereinsamten Weltbürger Liszt besonders assoziativ gewirkt und seine einfühlende Identifikation herausfordert haben, so dass die Umarmung der Welt zur finalen Katastrophe dieses Binnendramas der ersten Strophe wird. Die Musik endet abrupt mit einem Aufschrei von Schmerz – eine kurze expressionistische Ausdrucksgeste von elementarer Gewalt, welche die um Ausgewogenheit und Gleichgewicht bemühte Form des Sonnetts regelrecht sprengt.

      Nach diesem Abbruch, zu dem es keine Fortsetzung gibt und geben kann, kehrt die Musik zum Anfang zurück – das „Ritornell“ des Klaviers – sucht also einen neuen Anfang, der weiterführt. Der Form der Arie entsprechend gehört die zweite Strophe zum harmonisch stärker variierenden B-Teil, der sich bei Liszt auch die dritte und vierte Strophe – bis auf die Schlusszeile – bruchlos anschließen in Gestalt eines herunterzusingenden Strophenliedes. Dieser Abschnitt, welcher mit der Beschreibung von Amors göttlichem Werk beginnt, „betört“ den Hörer durch seine harmonische Komplexität und schön dahinschmelzendem ariösem Gesang, „Belcanto“ reinsten Stils. Solcher Wohllaut wird nur einmal unterbrochen durch das dunkel gefärbte „morte“ in „morte e vita“: Der Tod verweigert sich der amourösen Ästhetisierung. Die letzte Strophe steigert die Emphase zu einem wahren Klangrausch – erst die Schlusszeile mit ihrem Tonfall einer Mischung aus Wut und Trotz kehrt zum „sprechenden“ Ton der ersten Strophe zurück. Das Klavier improvisiert über die letzte Zeile, vertreibt wiederum den Ton der Anklage durch seinen Klangzauber, in welchen die Singstimme einstimmt durch eine betörende Kantilene in der Höhe, welche den Namen „Laura“ geradezu zärtlich in den Mund nimmt. Liszts Vertonung dramatisiert also nicht nur dieses Petrarca-Sonnett, sondern ästhetisiert zugleich. Aus der heillosen Verwirrung, dem Eingeständnis einer Aporie, wird eine Art apollinisch-dionysischer Rausch, der Genuss überwiegt, der bezeichnend in der Zeile kulminiert: „Der Schmerz erquickt mich, unter Tränen lach ich“. Das bedeutet eine „Romantisierung“ von Petrarcas Dichtung, welche das Verstörende der Liebe zwar nicht verschweigt, aber letztlich ihre erlösende Dimension hervorkehrt.

      Diese Tendenz zur romantischen Ästhetisierung setzt sich schließlich fort in der Klavierversion, dem „Lied ohne Worte“ aus den „Années de Pèlerinage“. Das Klavier beginnt wiederum mit den bizarren Akkorden, die schon in der Liedversion zu hören waren, spart jedoch die erste Strophe mit ihren dramatischen Antithesen komplett aus. Das Klavierlied huldigt voll und ganz Amors Gesang mit all seiner harmonisch-melodischen Finesse. Die Improvisation der Schlusszeile In questo stato son, Donna per Vui wandelt sich in der Klavierfassung zum Epilog, der mit der Einleitung korrespondiert – eine trockene, „sprechende“ Tongebung als Resumé („der Dichter spricht“ in der Art von Schumann) mit einem sich anschließenden verklärenden Abgesang des zur Ruhe Gekommenen. In den Vibrationen des arpeggierten Schlussakkord bebt die seelische Erregung lediglich nach – wie das ferne Wetterleuchten eines Gewitters, kongenial herausgehört von Vladimir Horowitz. Liszt setzte offenbar voraus, dass der Pianist mit dem Inhalt des Gedichts vertraut ist, sonst hätte er dieses Klavierstück wohl nicht mit „Sonetto 104 del Petrarca“ überschrieben und die Gedichttexte aller drei Petrarca-Sonnette dem Notentext beigefügt. Der Blick auf Petrarcas Verse, er sollte den Pianisten vor allem eines lehren: die Antithesen sprachdeutlich charakteristisch herauszuarbeiten, gerade weil die das Wort gebende Singstimme fehlt, wie dies vorbildlich etwa Dinu Lipatti realisiert. Genau damit nämlich wird dieses Instrumentalstück „beredt“, zu einem Lied ohne Worte, das der Worte letztlich nicht bedarf.

      Kommentar


        #33
        Annees de Pelerinage (II) Italien (3)

        7. Après une lecture du Dante. Fantasia quasi Sonata („Dante-Sonate“)

        Liszt war ein begeisterter Leser von Dantes göttlicher Komödie. Man fragt sich jedoch, warum der Zyklus nach der grandiosen Beschwörung der Liebe in den Petrarca-Sonnetten ausgerechnet mit der Hölle abschließt. Der Titel „Komödie“ bei Dante bedeutet nicht, dass es hier um die Schilderung „lustiger“ Dinge geht, sondern folgt der auf die Antike zurückgehenden Gattungstradition. Dichtung definiert sich durch den Inhalt, den sie darstellt. Die Tragödie hat entsprechend das Hohe und Erhabene zum Gegenstand, die Komödie beschäftigt sich mit den gewöhnlichen und niederen menschlichen Dingen, den kleinen und kleinlichen Verfehlungen und Fehlbarkeiten. Und genau dieser fehlbare Mensch ist in der Hölle aufgehoben. Der endgültige Titel mit seinem Bezug auf Victor Hugos Dante Lektüre hat Liszt seiner Sonate zwar erst später gegeben, er verrät allerdings etwas über die Motivation. Victor Hugos Gedicht in deutscher Übersetzung:

        Victor Hugo
        Nach einer Dante-Lektüre

        Wenn der Dichter die Hölle schildert, schildert er sein Leben.
        Sein Leben: ein Schatten, der die quälenden Gespenster flieht,
        ein geheimnisvoller Wald, wo seine aufgescheuchten Schritte
        sich ziellos verlaufen außerhalb der gebahnten Wege,
        dunkle Fahrt, behindert von hässlichen Begegnungen
        Spirallinie zu trüben Ufern, in enorme Tiefen,
        deren scheußliche Kreise immer weiter gehen
        in einem Schatten, in dem sich die grenzenlos beständige Hölle suhlt.
        Diese Rampe verliert sich im unbestimmten Nebel
        Am Boden jeder Unternehmung sitzt ein Klagen,
        und der hier passieren will mit dem ohnmächtigen Geräusch
        eines Knirschens der weißen Zähne in einer düstren Nacht.
        Da sind die Gesichte, die Träume, die Chimären,
        die Augen, die der Schmerz verwandelt in bittre Quellen,
        die Liebe, ein verschlungenes Paar, traurig und brennend stets
        die in einem Wirbelsturm eine Wunde an der Seite empfängt.
        In einer Ecke die Rache und der Hunger, unfromme Schwestern,
        zusammengekauert Seit’ an Seit’ auf einem abgenagten Schädel;
        Danach das bleiche Elend, bis aufs Lächeln ausgesaugt,
        der Ehrgeiz, der Stolz, der sich aus sich selber nährt,
        und die schmutzige Unzucht, die niederträcht’ge Habsucht,
        mit deren Bleimänteln all’ sich die Seele nur bepacken kann!
        Etwas entfernter die Feigheit, die Angst, der Verrat,
        die ihre Schlüssel zum Kauf anbieten und das Gift probieren.
        Und schließlich, noch weiter unten, und ganz am Boden des Abgrunds,
        die grimassierende Larve des Hasses der leidet.

        Ja, so so sieht es aus, das Leben, o begeisterter Poet!
        und sein düsterer Weg, von Hindernissen versperrt.
        Aber dass uns nichts hier mangle auf unsrer engen Bahn,
        zeigt Ihr Euch uns stets aufrecht von Eurer Rechten
        der Genius mit ruhiger Stirn, mit Augen voll von Strahlen,
        Der heitere Vergil der sagt: Nur weiter!


        „Wenn der Dichter die Hölle schildert, schildert er sein Leben.“ Victor Hugos Dante-Lektüre bringt Dantes Darstellung der Hölle romantisch mit der Künstlerproblematik in Verbindung: Die Fahrt durch die Hölle wird zum Sinnbild für die Enttäuschungen der Künstlerexistenz. Der Blick auf die Lebensreise des Poeten ist einerseits illusionslos, von tiefer Skepsis gezeichnet, andererseits aber von einem gewissem Heroismus geprägt, dem Willen zum „Durchhalten“, sich trotz aller Hindernisse und Verirrungen von seinem Weg nicht abbringen zu lassen. Genau das entspricht Liszts eigener Erfahrung als fahrender Virtuose und gefeierter „Star“ seiner Zeit, der von Heinrich Heine spöttisch so bezeichneten „Lisztomania“, nur zu genau. Liszt wählt die Form der Sonate, in der sich ein musikalisches Drama ausdrücken lässt. Der Untertitel „Fantasia quasi Sonata“ spielt auf Beethovens Klaviersonate op. 27 Nr. 1 an, die „Sonata quasi una fantasia“. Die Umkehrung deutet an, dass es hier um „Programmmusik“ geht, eine musikalische Phantasie im Gewand der Sonate. Die Grundzüge der Sonatenform sind zwar erkennbar, doch findet sich hier nicht mehr das, was sie beherrscht, der Konflikt zweier gegensätzlicher Themen in der Exposition, seine Austragung in der Durchführung und Lösung in der Reprise. Statt dessen eine Themen- und Motivvielfalt, die Liszt hier wie später in der h-moll-Sonate durch assoziative Motivverwandtschaft, die „Thementransformation“, bewältigt. Der Hörer soll die „Form“ nicht abstrakt hören, sondern mit dem sich ausdrückenden Inhalt, Dantes Darstellung der Hölle, in Verbindung bringen. Die Sonate eröffnet mit in die Tiefe abstürzenden Oktaven im Tritonus-Abstand – der Tritonus, das „teuflische“ Intervall (drei ganze Töne, eine übermäßige Quarte), auch „diabolus in musica“ genannt, ist natürlich nicht zufällig gewählt. Der Hörer wird hier mit der Musik in die Tiefe, den Höllenschlund, gerissen, alle Hoffnung soll er fahren lassen. Bezüge zu Victor Hugos Gedicht lassen sich durchaus herstellen. „Eine dunkle Fahrt, behindert von hässlichen Begegnungen“, das ist das Hauptthema mit Liszts Spielanweisung lamentoso: Eine chromatische, unruhig vorwärtsdrängende Bewegung, „Presto agitato assai“ zu spielen (Takt 35 ff.). Das Seitenthema ist weit davon entfernt, mit ihm als „positives“ Liedthema zu kontrastieren. Nachdem zum Ende des Hauptthemenkomplexes die Tritonus-Oktaven in der Tiefe verstummt sind, erscheint ein Bild entsetzlichen Jammers (Takt 124, Andante quasi improvisato, dolcissimo intimo sentimento). „Sein Leben: ein Schatten, der die quälenden Gespenster flieht“ könnte man dieses Schattenbild chromatisch in kleinsten Tonstufen daherschleichender Akkorde überschreiben. „Da sind die Gesichte, die Träume, die Chimären, die Augen, die der Schmerz verwandelt in bittre Quellen“ – das folgende Andante-Thema (Takt 136 ff.) mit seinem Ausdruck von intimer, leiser Sehnsucht ist ein Traum, eine Illusion in dieser Höllenwelt, das mündet in einem turbulenten Höllentanz der jammernden Schatten (Takt 157 ff. piu tosto ritenuto e rubato quasi improvisato). Einen Lichtblick gibt es allerdings: „die Liebe, ein verschlungenes Paar, traurig und brennend stets die in einem Wirbelsturm eine Wunde an der Seite empfängt“. Hier handelt es sich um die Francesca da Rimini-Episode aus Dantes „Göttlicher Komödie“ – Paolo und Francesca, das Paar einer verbotenen Liebe aufgrund einer Täuschung, die vom Enttäuschten, dem versprochenen Ehemann Giovanni, getötet wurden. Liszt gestaltet diesen Augenblick entdeckter wahrer Liebe zum Lichtblick im Dunkel der Hölle durch eine Passage mystischer Triller (Takt 292 ff., Andante), nachdem sich die in die Tiefe abstürzenden Höllenoktaven im äußersten Pianissimo verflüchtigt haben. Es ist bezeichnend, dass der Dante-Sonate der „positive“ Schluss fehlt. Die virtuose Coda (Takt 341 ff., Presto) ist freilich ein heroischer Kampf, der jedoch letztlich keinen Weg aus der Hölle findet. Es endet mit den in den Bass abstürzenden diabolischen Oktaven, einer Wiederholung des Anfangs der Sonate im Fortissimo mit düster-bedrohlichen Basstremoli untermalt. Das Höllentor – es schließt sich unerbittlich bei Liszt. Der Skeptiker Liszt hat das letzte Wort – aus der Hölle des Künstlerlebens gibt es kein Entrinnen.

        Supplement: Venezia e Napoli

        1861 veröffentlicht Liszt als Zusatz zum zweiten Band der „Années...“ drei musikalische Reisebilder unter dem Titel „Venezia e Napoli“. Beim ersten Stück „Gondoliera“ verwendet er das Lied „La biondina in gondoletta“ von Cavaliere Peruchini (1784-1870). Es beschreibt mit seinen sanft wiegenden Bewegungen einen schwebenden Augenblick der Schönheit und des Glücks. In der folgenden „Canzone“ griff Liszt auf Rossinis „Otello“ zurück. Die folgende virtuose „Tarantella“ bearbeitet ein Thema von Guillaume Louis Cottrau (1797-1847). Eine Passage hat auffällige Verwandtschaft mit dem Bild der schwatzenden Marktfrauen aus Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“ – Mussorgsky hat dieses Liszt-Stück offenbar gekannt. Das ist wohl kein Zufall. Liszt steht mit seinen Charakterstücken an der Schwelle von der Romantik zum Realismus.


        Viel Vergnügen beim Hören!

        Beste Grüße
        Holger
        Zuletzt geändert von Gast; 16.12.2011, 13:52.

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          #34
          Nikolai Luganskys Liszt-Recital

          Die CD Franz Liszt: Klavierwerke jetzt probehören und portofrei für 19,99 Euro kaufen. Mehr von Franz Liszt gibt es im Shop.


          Luganskys Liszt: Ein immer äußerst durchdachtes, aber auch sehr „abgeklärtes“ Klavierspiel. Vor Luganskys beispielhafter Sorgfalt als Interpret kann man nur den Hut ziehen. Zu abgeklärt aber vielleicht – es fehlt bei all dieser absoluten Kontrolle und Selbstkontrolle irgendwie der Enthusiasmus, der Funken, der überspringt. Ein Liszt, der nicht berauschen will, sondern überzeugen. Damit ist Lugansky selbst zweifellos überaus überzeugend. Für mich am stärksten „Sposalizio“ und die Feux follet-Etüde, am schwächsten Les jeux d´eau à la Villa d´Este – ein brilliantes Virtuosenstück, mehr nicht, ohne höhere geistige Dimension sowie die Paraphrase von Isoldes Liebestod, wo es ihm nicht gelingt, eine großbogige Steigerung aufzubauen.

          Beste Grüße
          Holger

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            #35


            http://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Alicia-de-Larrocha-The-Art-of/hnum/7763126


            Eine Sternstunde und zugleich Lehrstunde großen Klavierspiels ist A. de Larrochas Aufnahme von Liszts Sonate h-moll, die es wahrlich verdient, bekannter zu sein als sie ist. Eigentlich kaum zu glauben, wie sie mit ihrem Handycap, ihren sehr kleinen Händen (sie war nur 1. 50 m groß!), diesen sperrigen und wuchtigen Klaviersatz bewältigt! An Präzision und Durchschlagskraft, impulsiver Virtuosität lässt sie aber auch gar nichts vermissen. Klaviertechnisch ist das wahrlich außergewöhnlich. Die Interpretation von eindrucksvoller Geschlossenheit und Schönheit, mit Wärme und poetischer Kraft: Orchestrale Klangfülle ohne Pomp. Ich habe bisher noch niemanden gehört, der die Pausen zu Beginn so nachdrücklich und spannungsgeladen vorträgt. Auch die berühmte Recitativo-Passage klingt bei ihr Forte wie im Notentext vorgeschrieben und nicht Piano, wie bei vielen anderen, was Alfred Brendel zu recht moniert. Diese emotional reichhaltige und ungemein intelligente Dramaturgie mit absoluter pianistischer Souveränität vorgetragen gehört zu den allerbesten Aufnahmen der h-moll Sonate.


            Beste Grüße
            Holger


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