Zitat von zatopek
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klar, daß so jemand wie Gould polarisiert! Daß Du ihn nicht magst, warum sollst Du das nicht auch so bekennen!? Das ist Dein gutes Recht! Aber im Ernst: Ich mag z.B. den Ivo Pogorelich nicht. Der hat wirklich Show gemacht: erst tritt er als Lümmel auf und dann als Dandy. Für mich ein eiskalter Manirist, der um jeden Preis interessant sein will auf Kosten des Notentextes. Das habe ich bei Gould noch nie erlebt, mangelnden Respekt vor dem Werk! Gould ist finde ich mit Pogorelich nicht zu vergleichen! Ich mag auch nicht alles, was er gemacht hat. Die Brahms-Klavierstücke finde ich toll, die Balladen op. 10 dagegen halte ich für mißlungen.
Mit den Wiederholungen ist die Sache kompliziert. Wenn man musikwissenschaftliche Literatur liest, kann man eine gewisse Ratlosigkeit feststellen. Warum muß man z.B. eine Sonatenexposition wiederholen? Viele empfinden das als historischen Ballast. So lassen Rubinstein (!) und viele andere bei Chopins b-moll-Sonate (mit dem Trauermarsch) die Expositionswiederholung einfach weg. Ich finde das nicht gut, weil es dem Satz das Gewicht nimmt. Aber man kann da als Rechtfertigung lesen: Die Expositionswiederholung stammt aus der Zeit der zweiteiligen Sonatensatzform (Scarlatti!), um die Zäsur in der Mitte zu unterstreichen. Zwischenzeitlich hat sich die Sonate zur dreiteiligen Form (Exposition-Durchführung-Reprise) gewandelt, und da sei sie eigentlich überflüssig. Was soll man dazu sagen? (Es gibt noch andere Erklärungen, die Sachlage ist sehr verwirrend!). Bei Bach kann man sich dieselbe Frage stellen. Die Wiederholung soll die Abgeschlossenheit eines Teiles (einer Variation) unterstreichen. Berauchen wir diese Gedächtnisstütze eigentlich? Wenn ich den Arrau höre, ist mir das alles einfach zu lang. Ich kann auf die Wiederholung gerne verzichten - finde das ohne klarer! Ich glaube die meisten Pianisten heute lassen die Wiederholungen weg (Schiff doch wohl auch?).
Was ich mit Puritanismus bei Gould meinte: Der Puritaner mag keine Sinnlichkeit, keine "Reize". Goulds Spiel ist absolut >unästhetisch<, ihm kommt es nicht auf einen schönen Ton an, Atmosphäre und irgendwelche dramatischen Wirkungen, die auf Stimmungscharaktären beruhen. Gould verzichtet auf jede Wirkung im Sinne der Erzeugung von ästhetischem >Schein<: Es gibt nur Sein, kein Scheinen. Sein Spiel ist deshalb >trocken<, betont unpianistisch. Deswegen spielt er auch keinen >sinnlichen< Chopin, das geht einfach nicht! Das ist ein Komponist für pianistische Ästheten. Richter spielt das Wohltemperierte Klavier auch unästhetisch, bei Edwin Fischers Aufnahme aus den 30igern erfährt man erst einmal, wie schön auch Bach klingen kann. Ich finde das toll! Das ist wirklich mal eine Alternative zu Gould!
Apropos Ausdruck: Das Barockzeitalter ist von der musikalischen Rhetorik geprägt. Die hat eine "Figurenlehre" entwickelt über Jahrhunderte, die jeder Komponist - auch Bach - als Handwerkszeug beherrschte. Jeder Figur ist ein ganz bestimmter Affekt zugeordnet, der genau definiert ist, sogar einen Namen besitzt wie z.B. der Ausdruck für Schmerz, der "Passus duriusculus". Rhetorisch ausdrucksvoll spielen darf also ein Bach-Interpret! Das Wesentliche beim Affekt ist immer, daß er von der Rhetorik her als Mittel der Sinnverdeutlichung gedacht ist (musikalische Affekte solllten ursprünglich den Wortausdruck verstärken, Musik wurde als Sprache, als Gesang verstanden), der Ausdruck also immer klar abgegrenzt ist. Die Romantik hat genau das kritisiert: Sie wollte keine Affekte mehr schildern und betont das nicht bestimmte, sondern unbestimmte Gefühl, die dunkle und ahnungsvolle >Stimmung<, die ins Unendliche, Grenzenlose geht. In diesem Sinne gestaltet Goulds Expressivität auch wieder >trocken< und nicht romantisch >naß<: Er gestaltet immer sehr rhetorisch-prägnant die Figuren - das ist letztlich ganz und gar >unromantisch<!
Über das Asperger-Syndrom gab es gerade eine schöne Sendung in der Reihe "Quarks & Co." mit einer sehr netten und hochintelligenten Studentin, die an dieser Krankheit leidet. Das fand ich sehr erhellend! Aber zu Asperger paßt nicht Goulds Humor und Kommunikationsfreude! Autisten sind humorlos!
Beste Grüße
Holger
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