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    #46
    Hallo Markus,

    Zitat von Markus Berzborn Beitrag anzeigen
    Der Umgang mit Sprache, die reine Schönheit der deutschen Sprache ist bei Thomas Mann oft unglaublich.
    Nun, über Schönheit läßt sich schlecht streiten; ich mag ihm nicht gerne zuhören, weil er imo nicht besonders gut erzählen kann. Alles wirkt bei ihm oft so gedrechselt und geschraubt, es fehlt mir der natürliche Fluss der Sprache und der Erzählung. Gerade diese Eigenheiten machen ihn meines Erachtens aber zu einem typisch "deutschen" Schriftsteller. Ich frage mich, ob überhaupt und wie man ihn in eine andere Sprache übersetzen kann. Ich nehme vier Werke aus: die Novellen Tonio Kröger und Der Tod in Venedig und die Romane Felix Krull und die Buddenbrocks. Die übrigen Werke sind meiner Meinung nach nur noch etwas für Germanistik-Seminare oder Das Literarische Quartett. Freiwillig lesen würde ich sie nicht noch einmal.

    Vg, Bernd

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      #47
      Hallo Holger,

      ich gebe dir ja recht, dass Goethe für viele Autoren eine unverzichtbare Grundlage war. Bei E.Th.A Hoffmann sehe ich das jetzt nicht sofort. Dafür ist sein Werk von dem Goethens doch viel zu verschieden. Man denke an die Rolle der Musik in seinen Werken, die imo keine Entsprechung bei Goethe findet. Soweit ich weiss, hat Goethe ihn auch nicht sehr geschätzt.

      Aber selbst wenn man die "Bedeutung" eines Autors nicht in Abrede stellt, heißt das ja noch lange nicht, dass man ihn unbedingt lesen und dabei auch noch Vergnügen empfinden muss. Wie gesagt, es gibt einfach zuviel zu entdecken, das wesentlich spannender und interessanter ist. Ich könnte die Liste ja noch fortsetzen. Eben beim Laufen viel mir noch Alessandro Manzoni ein. "Die Verlobten" ist ein herrlicher Roman, für den ich alle Romane Goethens geben würde. Oder Thomasi di Lampedusa "Der Leopard" und Fernando Pessoa "Das Buch der Unruhe" oder die Werke von Emil Cioran.

      Zitat von Dr. Holger Kaletha Beitrag anzeigen
      Thomas Mann kann man finde ich nicht hoch genug einschätzen. Er ist der letzte, der versucht, Romane zu schreiben, die ein ganzes Zeitalter portraitieren.
      Da befindest du dich in bester Gesellschaft, trotzdem möchte ich dir widersprechen. Wassili Grossmann hat z.B. mit "Leben und Schicksal" einen Roman vorgelegt, der nicht weniger poträtiert als das Zeitalter im Zweiten Weltkrieg und das in einer Breite und Wucht, die sich nur noch mit Tolstojs "Krieg und Frieden" vergleichen läßt. Leider ist der Roman erst im vergangenen Jahr erstmalig auf Deutsch erschienen. Das Manuskript durfte in der Sowjetunion selbstverständlich nicht erscheinen und kam auf abenteurlichen Wegen in den Westen. Richard Ford spiegelt seit Jahrzehnten in seinen Romanen die amerikanische Gesellschaft mit all ihren Brüchen und Widersprüchen wieder. Ähnlich John Updike mit seinen Rabbit-Romanen. Es gibt soviele Autoren, die noch immer versuchen, ein Zeitalter in einen Roman zu fassen. Robert Musil z.B. Zuletzt dürfte auch Thoms Pynchons grandioser Roman "Gegen den Tag" dazu gehören, obwohl sich darin auch noch eine Wissenschafts-, Horror-, Abenteuer-, Science-Fiction-, Krimi- usw. Geschichte findet. Herrlich Barock und überladen !

      Wie ich schon sagte, ich mag Th. Mann nicht, weil er imo für das großbürgerliche Bildungsbürgertum schreibt. Seine Geschichten - bis auf die in meinem anderen Posting genannten Ausnahmen - sind mir zu konstruiert und kommen nicht aus dem Bauch. Ein Schriftsteller wie Kafka musste schreiben. Man spürt in jedem seiner Bücher diesen Drang, das auszudrücken, was in ihm rumort. Bei Mann meine ich immer, er habe sich hingesetzt und gesagt: "So, heute schreiben wir mal einen wirklich großen Roman über die Befindlichkeit des Menschen vor dem ersten Weltkrieg, damit endlich mal der Nobelpreis fällig wird". Ich habe mal eine Biographie von Klaus Harpprecht gelesen. Mann ist ja schon fast grün vor Neid geworden, als Gerhart Hauptmann vor ihm den Nobelpreis erhielt. In seinen Werken fehlt mir das Spontane, das Unmittelbare. er schreibt kaum aus eigener Betroffenheit, sondern irgendiwe immer zur Belehrung und Bildung. Dazu kommt seine manchmal fürchterlich überbordende Sprache, die ihn nicht gerade leicht verständlich macht. Er schreibt diese für ihn typischen Bandwurmsätze bei denen man am Ende nicht mehr genau weiss, womit er eigentlich angefangen hat und ich fürchte, er hat, in dem viele Deutschlehrer ihn kritiklos zum Vorbild erkoren, ganze Generationen von Schülern versaut. Da lobe ich mir doch die einfachere, schnörkellose Sprache seines Bruders. Nein, nein, ich mag ihn nicht... :P

      Viele Grüße,

      Bernd

      P.S.: Meine zehn Bücher für die Insel wären

      1. Herodot, "Historien"
      3. Shakespeare, mindestens die Tragödien
      4. Montaigne "Die Essays"
      5. Kant "Die drei Kritiken"
      6. Jane Austen "Mansfield Park"
      7. Tolstoi "Krieg und Frieden"
      8. James Joyce "Ulysses"
      9. Marcel Proust "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
      10. E.Th.A. Hoffmann "Lebensansichten des Katers Murr"

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        #48
        Hallo, meine Experten..:E

        ich erhalte gerade einige interesssante Buchtipps..:B:..:B

        mfG..:E
        Andreas

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          #49
          Hallo Andreas,

          Zitat von debonoo Beitrag anzeigen
          Hallo, meine Experten..:E

          ich erhalte gerade einige interesssante Buchtipps..:B:..:B
          Lies doch einfach zuerst mal den Roman von Robert Musil. Lohnt sich wirklich. Auch ein Portrait einer Zeit im Übergang.

          Viele Grüße,

          Bernd

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            #50
            Zitat von zatopek Beitrag anzeigen
            Alles wirkt bei ihm oft so gedrechselt und geschraubt, es fehlt mir der natürliche Fluss der Sprache und der Erzählung. Gerade diese Eigenheiten machen ihn meines Erachtens aber zu einem typisch "deutschen" Schriftsteller. Ich frage mich, ob überhaupt und wie man ihn in eine andere Sprache übersetzen kann. Ich nehme vier Werke aus: die Novellen Tonio Kröger und Der Tod in Venedig und die Romane Felix Krull und die Buddenbrocks. Die übrigen Werke sind meiner Meinung nach nur noch etwas für Germanistik-Seminare oder Das Literarische Quartett. Freiwillig lesen würde ich sie nicht noch einmal.
            Hallo Bernd,

            ich habe ja in Wuppertal Germanistik studiert beim Leiter der dort ansässigen Forschungsstelle für Prager Literatur, Jürgen Born (ist natürlich inzwischen emeritiert). Die Unterschiede von Kafka und Thomas Mann waren natürlich Thema im Seminar, woran ich mich lebendig erinnere! Kafka schreibt immer sehr spontan, bei Thomas Mann ist in der Tat nichts spontan! Bevor er den "Tod in Venedig" geschrieben hat er erst einmal Erwin Rohdes "Psyche" u.a. exzerpiert, Zeitungsausschnitte gesammelt, ein Bild von Gustav Mahler ist in den Notizen! Ich habe den Materialienband! Der hochartifizielle Thomas Mann-Stil läßt sich auch treffend parodieren (Armin Eichholz). Aber die Paradie zeigt indirekt die unglaubliche sprachliche Meisterschaft von Th. Mann. Der Grad zum Überschreiten der Grenze zum Lächerlichen ist bei dieser hochartifiziellen Syntax sehr sehr schmal, aber er überschreitet sie eben nicht!

            Verallgemeinern als typisch deutsch läßt sich dieser Stil finde ich nicht. Wieso ist das >deutscher< als die musikalische Schreibweise von Clemens Brentano oder Eichendorf? Bei Goethe verkennst Du finde ich seine Universalität - er was Dichter-Philosoph wie übrigens Hölderlin auch, der eine wunderschöne Sprache hat, aber ein noch schwererer Autor ist als Goethe! Die Romantiker haben sich an Goethe sehr heftig gerieben (Novalis!), aber sind eben von ihm ausgegangen. Und Ähnliches - was die Universalität angeht - gilt für Thomas Manns "Doctor Faustus". Das ist ein Spätwerk und wie Spätwerke so oft sprachlich etwas spröder als die schönen frühen Novellen. (Platons Spätdialoge sind ja auch ziemlich spröde im Vergleich mit den frühen und mittleren z.B., Thomas Mann ist in bezug auf dieses Phänomen durchaus kein Einzelfall!) Aber es ist eben mehr als nur schöne Literatur - da gibt es einen philosophischen Anspruch, der dieses Werk vor anderen heraushebt und nicht zuletzt den Versuch, sich mit der deutschen Literaturgeschichte insgesamt auseinanderzusetzen: Das ist auch eine Auseinandersetzung mit Goethes monumentaler Faust-Dichtung. Dagegen ist anderes nun einfach >leichtgewichtig<.

            Der Einwand mit dem Bildungsbürgertum kassiert auch schnell den Gegeneinwand der geistigen Bequemlichkeit. Wir vergessen heute viel zu leicht, was "Bildung" für die Aufklärung bedeutete: Den Anspruch, das Menschsein menschlicher zu machen, die rohe menschliche Natur zu verfeinern. Die mephistophelische Umkehrung dieses Anspruchs hat Thomas Mann sehr schön im "Doctor Faustus" dargestellt, das was er "die Läuterung des Komplizierten zum Eínfachen" nennt. Das ist nun wirklich sehr ironisch und tiefsinnig: Aus dem Einwand des Bildungsbürgertums, spricht da nicht Adrian Leverkühn, der den Pakt mit dem Teufel bereits abgeschlossen hat?

            Beste Grüße
            Holger
            Zuletzt geändert von Gast; 22.05.2009, 19:29.

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              #51
              Zitat von zatopek Beitrag anzeigen
              Mann ist ja schon fast grün vor Neid geworden, als Gerhart Hauptmann vor ihm den Nobelpreis erhielt. In seinen Werken fehlt mir das Spontane, das Unmittelbare. er schreibt kaum aus eigener Betroffenheit, sondern irgendiwe immer zur Belehrung und Bildung.
              Naja, Thomas Mann hat zwei Seelen in der Brust: Da ist die Seite des hanseatischen Kaufmanns, das Bemühen um "Meisterschaft". Und da ist andererseits die lateinamerikanische Seele der Mutter mit ihrer ganzen Erotik und Sinnlichkeit. Die ganzen Beklemmungen und Verdrängungen, die aus diesem unlösbaren Konflikt resultieren, die thematisiert Thomas Mann doch sehr lebendig! Schon im Tonio Kröger, und im "Tod in Venedig" geht es nicht nur um Mythos und Kunst, sondern auch um die eigene Homosexualität! Gerade diese Komplexität (es durchkreuzen sich immer mehrere Ebenen) macht Thomas Mann so lebendig spannend! Hinter der apollinischen (Kunst-)Fassade brodelt das Dionysische - das merke ich bei Thomas Mann eigentlich immer! Man darf sich eben nicht nur an diese apollinische Fassade halten, wie Du das finde ich machst!

              Beste Grüße
              Holger

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                #52
                Zitat von zatopek Beitrag anzeigen
                weil er imo nicht besonders gut erzählen kann. Alles wirkt bei ihm oft so gedrechselt und geschraubt, es fehlt mir der natürliche Fluss der Sprache und der Erzählung.
                Das sind alles Einwände, die für mich keine Rolle spielen. Ebenso denke ich nicht in Kategorien wie "Langeweile". Weil die eben im Rezipienten stattfindet und nicht in der Sache selbst, also im Kunstwerk, liegt. Das hat mich schon immer so bei Reich-Ranicki genervt, wenn er das zum Qualitätskriterium stilisierte: "Ich habe mich gelangweilt."
                Was mich eigentlich interessiert, ist auch nicht der Inhalt, sondern Sprachkunst. Die ist es, die Hochliteratur von Trivialliteratur unterscheidet. Es ist ähnlich wie in der Musik.
                Darum schätze ich Kafka ebenso wie Mann, Proust, Musil oder Joyce. Letzterer ist teilweise hochartifiziell ("Finnegans Wake" - da kann man ja kaum noch einen einzelnen Satz lesen, ohne eine lange Pause zu machen, um darüber nachzudenken). Aber ich kann auch dem sehr reduzierten Stil von Hemingway etwas abgewinnen. Ebenso wie ich gerne Xenakis, aber auch Glass höre. Es muss halt nur alles konsequent, konsistent und auf hohem geistigen Niveau sein.

                Gruß,
                Markus

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                  #53
                  Zitat von Markus Berzborn Beitrag anzeigen
                  Was mich eigentlich interessiert, ist auch nicht der Inhalt, sondern Sprachkunst. Die ist es, die Hochliteratur von Trivialliteratur unterscheidet. Es ist ähnlich wie in der Musik.
                  Markus, das ist natürlich ein bischen gefährlich. Wenn man das so vertritt, kassiert man leicht den Einwand des "lart pour lart", eines Ästhetizismus. Das meinst Du wahrscheinlich aber auch nicht! Zwischen Form und Inhalt muß es eine Entsprechung geben, Tiefsinn kunstlos verpackt geht genauso wenig wie umgekehrt schöner Stil als Selbstzweck, ohne Inhalt. Es ist einfach so: Wirklich Bedeutendes verlangt einen sehr >kunstgemäßen< Ausdruck, wie immer der auch aussieht. Auch die Schlichtheit ist eine hochartifizielle Stilisierung. Da kann man dann auf Schillers schöne Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung hinweisen. Sentimentalisch ist: Man sucht nicht Natur, sondern Natürlichkeit. Und das ist hochartifiziell. Beispiel: Der betont einfache "Volksliedton" der Romantik oder der >Primitivismus< im Kubismus oder bei Strawinsky oder Bartok.

                  Beste Grüße
                  Holger

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                    #54
                    Zitat von Dr. Holger Kaletha Beitrag anzeigen
                    Wenn man das so vertritt, kassiert man leicht den Einwand des "lart pour lart", eines Ästhetizismus.
                    Den Vorwurf lasse ich mir gerne gefallen.

                    Weil ich eine Grundabneigung gegen die linksorientierten Philosophen des 20. Jahrhunderts habe, die "gesellschaftliche Relevanz" als Qualitätskriterium für Kunst betrachteten.

                    Aber ich habe mich auch unglücklich ausgedrückt. Hätte vielleicht sagen sollen: Die Thematik ist nicht so wichtig, nicht der Inhalt.

                    Ansonsten möchte ich Bernd für den Tip mit Grossmann danken, sollte ich mich wirklich mal mit beschäftigen. Wie auch sonst die Liste von Bernd meines Erachtens sehr gut ist. Gerade eben habe ich mich noch mit meiner Frau darüber unterhalten, sie hat auch noch nie was von Grossmann gelesen.
                    Damit ich aber hier nicht ganz ohne Empfehlung dastehe, möchte ich auch auf einen (etwas vergessenen?) russischen Schriftsteller hinweisen: Andrei Bely, der mit "Petersburg" einen monumentalen Roman geschrieben hat, der sich natürlich in gewisser Weise um die gleichnamige Stadt dreht, aber weit darüber hinaus weist. Ähnlich wie man nicht sagen kann, dass es im Ulysses von James Joyce nur um Dublin geht.
                    Leider kann ich das Werk aber nur in Übersetzung lesen, weil die Sprache wirklich sehr anspruchsvoll ist. Obwohl ich viel russisch spreche und lese, ist mir das im Original zu anstrengend. Auch meine Frau meint als Russin, Bely sei "unlesbar".

                    Gruß,
                    Markus
                    Zuletzt geändert von Gast; 22.05.2009, 22:52.

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                      #55
                      Hallo Markus,

                      Zitat von Markus Berzborn Beitrag anzeigen
                      Ansonsten möchte ich Bernd für den Tip mit Grossmann danken, sollte ich mich wirklich mal mit beschäftigen. Wie auch sonst die Liste von Bernd meines Erachtens sehr gut ist. Gerade eben habe ich mich noch mit meiner Frau darüber unterhalten, sie hat auch noch nie was von Grossmann gelesen.
                      Gerne ! Ich bin selber eher durch Zufall darüber gestolpert. Ich hatte von ihm noch nie etwas gehört und kannte das Buch auch nicht. Grossmann ist in Deutschland leider wirklich nicht sehr bekannt, völlig zu Unrecht. Tja, wenn es noch das Literarische Quartett mit M.R.-R. gäbe, wäre das anders.

                      Ich gebe dir auch insofern Recht, als es wirklich Autoren gibt, die machen einen mit der Sprache schlicht besoffen, wenn ich es einmal so krass ausdrücken darf. Man gerät in eine Sog, der einen bis zum Ende nicht mehr loslässt und dann schliesst man das Buch und sagt sich: "Hey, was habe ich da gerade eigentlich gelesen ?". Der Inhalt und die Absicht des Autors sind dann völlig egal. Aber solche Autoren sind wirklich, wirklich selten. Und wahrscheinlich hängt auch das von einer gewissen Leseerfahrung ab, genauso, wie man gewisse Musik auch nur mit einer bestimmten Erfahrung wirklich verstehen kann.

                      VG, Bernd

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                        #56
                        Zitat von Markus Berzborn Beitrag anzeigen
                        Weil ich eine Grundabneigung gegen die linksorientierten Philosophen des 20. Jahrhunderts habe, die "gesellschaftliche Relevanz" als Qualitätskriterium für Kunst betrachteten.
                        Hallo Markus,

                        der "lart pour lart" Einwand kratzt auch für mich nur an der Oberfläche, weil er den ganz und gar unalltäglichen, metaphysischen Anspruch der Kunst nicht ernst nimmt. Daran krankt ja auch unsere Diskussion. Man muß die Frage stellen: Wozu, zu welchen Zweck dient Kunst, was ist ihr Sinn? Ich habe bewußt die Beispiele von Goethe, Hölderlin und Thomas Mann gebracht, weil hier Dichtung einen sehr hohen Stellenwert hat, auf einer Stufe steht mit Religion und Philosophie. Da geht es darum, die grundlegenden Fragen unseres Daseins zu stellen und es gehört dazu auch, daß Kunst sich reflektiert. Da geht es nicht um Alltägliches, um solche banalen Dinge wie Unterhaltung und Bedürfnisbefriedigung.

                        Die Frage des Verhältnisses von Kunst, Künstler und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft haben natürlich nicht erst >linksorientierte Philosophen< gestellt, sondern exemplarisch Goethe im "Wilhelm Meister", der die Tradition des Bildungsromans gestiftet hat: Das Individuum soll nicht einer romantischen Künstlerexistenz nachjagen, sondern zum nützlichen Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft werden. Die Romantiker haben die Vorzeichen dann umgedreht und den Goethe sogar persifliert wie E.T.A. Hoffmann im >Kater Murr<: Der gebildete Bürger ist ein borniert-häuslicher Spießer und das bürgerliche Bildungsideal nicht das eines Menschen, sondern das komisch-verkehrte eines Mensch sein wollenden Tieres. Bei Thomas Mann, im >Zauberberg<, endet diese Tradition des goethischen Bildungsromans in beißender Ironie: Da wird einer zum nützlichen Mitglied der Gesellschaft gebildet und dann ganz nutzlos im Weltkrieg verheizt. Insofern ist diese>linke< Kritik am lart pour lart sehr >bildungsbürgerlich< und Goethe-fixiert, muß man ironisch feststellen. Die Romantiker dagegen waren alle sehr kritisch gegenüber dem Bürgertum (Schumann: Der Marsch der Davidsbündler gegen die Philister im >Carnaval<), meistens ja auch Adlige: von Armin, von Brentano, von Eichendorff!

                        Beste Grüße
                        Holger

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                          #57
                          Zitat von Dr. Holger Kaletha Beitrag anzeigen
                          Man muß die Frage stellen: Wozu, zu welchen Zweck dient Kunst, was ist ihr Sinn?
                          Ich bin da fast geneigt, mit John Cage zu antworten: "We don't know. We just don't know." (Obwohl das seine Antwort auf die Frage: "What is love" war).

                          Gruß,
                          Markus

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                            #58
                            Zitat von Dr. Holger Kaletha Beitrag anzeigen
                            Insofern ist diese>linke< Kritik am lart pour lart sehr >bildungsbürgerlich< und Goethe-fixiert, muß man ironisch feststellen.

                            ist gar nicht so ironisch. Lenin soll irgendwann nach der russischen Revolution gesagt haben "wenigstens für den Moment sollte uns eine bürgerliche Kultur genügen".

                            das deckt sich auch mit persönlichen Erfahrungen. Kaum jemand ist so bildungsbürgerlich unterwegs wie ältere Kommunisten...


                            lg
                            reno

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                              #59
                              Hallo,

                              Mir gefällt die Idee nicht, der Kunst einen bestimmten Sinn zu geben und damit andere Richtungen auszuschliessen.
                              Ihr nur einen höheren Sinn zu geben, sie auf die Stufe von Religion und Philosophie zu stellen, schränkt sie mE zu sehr ein.
                              Sie kann das sein, aber nicht nur.
                              Sondern viel mehr. Sie kann auf vielen Ebenen wirken.

                              Solche idealisierten Vorstellungen sagen viel mehr über den Urheber aus, über den Betrachter, Leser, Hörer und dessen Wahrnehmung und Weltbild, mit dem er diese Wahrnehmung für sich inzerpretiert.

                              Daher ja:
                              Kunst der Kunst Willen, was aber noch lange kein Ästhetizismus sein muss (wohl aber in manchmal aber sein kann.
                              Für mich gilt immer noch jener Satz, den mein Großvater nach dem Krieg wieder am Gebäude der Wiener Secession anbringen liess:

                              Der Zeit ihre Kunst
                              Der Kunst ihre Freiheit


                              Genau diese Freiheit wird durch solche Versuche, der Kunst einen bestimmten Sinn zuzuschreiben, empfindlich eingeschränkt.

                              Kunst ist Kunst ist Kunst

                              Alles weiter ist Interpretation des Betrachters / Hörers / Lesers.

                              LG

                              Babak
                              Grüße
                              :S

                              Babak

                              ------------------------------
                              "Alles was wir hören ist eine Meinung, nicht ein Faktum.

                              Alles was wir sehen ist eine Perspektive, nicht die Wahrheit!"


                              Marcus Aurelius

                              Kommentar


                                #60
                                Zitat von Babak Beitrag anzeigen
                                Hallo,

                                Mir gefällt die Idee nicht, der Kunst einen bestimmten Sinn zu geben und damit andere Richtungen auszuschliessen.
                                Ihr nur einen höheren Sinn zu geben, sie auf die Stufe von Religion und Philosophie zu stellen, schränkt sie mE zu sehr ein.

                                Solche idealisierten Vorstellungen sagen viel mehr über den Urheber aus, über den Betrachter, Leser, Hörer und dessen Wahrnehmung und Weltbild, mit dem er diese Wahrnehmung für sich inzerpretiert.

                                Für mich gilt immer noch jener Satz, den mein Großvater nach dem Krieg wieder am Gebäude der Wiener Secession anbringen liess:

                                Der Zeit ihre Kunst
                                Der Kunst ihre Freiheit

                                Genau diese Freiheit wird durch solche Versuche, der Kunst einen bestimmten Sinn zuzuschreiben, empfindlich eingeschränkt.
                                Hallo Babak,

                                wer war denn Dein Großvater? Das interessiert mich wirklich! Dein Argument verstehe ich aber nicht so recht. Die Sache sieht ja anders aus je nachdem, ob ich das vom Standpunkt des Rezepienten oder des Künstlers aus betrachte. Für den Rezipienten bedeutet eine bestimmte Sinndeutung natürlich immer eine Einschränkung einer Fülle von Möglichkeiten, Kunst zu deuten und zu verstehen. Für den Künstler ist diese Einschränkung aber unabdingbar, um überhaupt ein Kunstwerk zu schaffen. Man kann ja z.B. nicht zugleich Klassizist und Antiklassizist sein wollen - der Künstler muß sich für einen Weg notwendig entscheiden. Insofern geht in die Konzeption des Kunstwerks immer schon ein ganz bestimmtes Weltbild ein.

                                Ich sehe auch nicht, wieso die metaphysische Deutung von Kunst eine Einschränkung sein soll. Zunächst einmal bedeutet sie eine neue Möglichkeit. Beispiel: Hölderlin. Hölderlin wohnte im Tübinger Stift zusammen mit den Philosophen Schelling und Hegel auf einem Zimmer. Zusammen entwarfen sie ein Programm, wo die Dichtung die eigentliche und höchste Philosophie sein sollte. Hölderlins Dichtungen sind also Philosophie. In diesem Geiste wendete sich Hölderlin zurück zu den Griechen, zu Homer. Bei Homer ist Dichtung zugleich Mythos, d.h. Göttergeschichte, Religion, also weit mehr als nur "Literatur" in unserem heutigen Sinne. Das ist ja nun keine Einschränkung, sondern eine Erweiterung dessen, was Dichtung bedeuten kann. Sie wird nicht nur ästhetisch verstanden (das ästhetische Verständnis von Kunst ist ja ziemlich neu, geht zurück auf den Leibniz-Schüler Baumgarten!), sondern als eine umfassende Weltstiftung. So versteht Hölderlin Dichtung: daß sie eine bestimmten Epoche, einer bestimmten Kultur die Sprachmittel an die Hand gibt, ihr Weltverständnis zum Ausdruck zu bringen. Martin Heidegger hat das philosophisch formuliert in seinem berühmten Kunstwerk-Aufsatz, der die These aufgestellt: Kunst ist das "Ins-Werk-setzen von Welt". Dieses Weltverständnis ist nicht eingeschränkt wie die ausschließlich ästhetische Betrachtung von Kunst, sondern eben umfassend, schließt also Metaphysik und Religion, das Ethische usw. ein. Kunst ist nicht nur >schön<, sie kann auch >wahr< sein. Den Expressionismus z.B., der sich ausdrücklich gegen >schöne< Kunst wendet, kann man mit einem solchen umfassenden philosophischen Verständnis von Kunst erst richtig verstehen und würdigen.

                                Im 19. Jahrundert entsteht die Auffassung der Kunstreligion, maßgeblich durch Schleiermacher: Religion ist für ihn "Anschauung des Universums", und die kann sich sowohl durch Religion im engeren Sinne als auch Philosophie und Kunst verwirklichen. Das hat besonders stark auf die Romantik bewirkt. Und der romantischen Metaphysik der Instrumentalmusik ist es wesentlich zu verdanken, daß sich die Instrumentalmusik emanzipierte, nicht mehr - weil nicht mit dem Wort verbunden - als sinnleeres Geräusch empfunden wird. Und weil man Musik in einer >andachtsvollen< Haltung rezipiert, kann man Musikstücke als selbständige Werke ernst nehmen. Musik wird nicht mehr nur konsumiert wie Essen und Trinken. Auch das ist ein Verdienst der Romantik, was die bis heute maßgebliche Rezeption von Kunstmusik angeht. Die Romantiker waren es übrigens auch, die sich gegen vereinfachende "Sinnfestlegungen" bei der Deutung von Kunst gewehrt haben: der transzendentale Sinn ist nämlich unendlich wie das unendliche, göttliche Universum und im Prinzip unausdeutbar.

                                In Hegels Ästhetik gibt es die berühmte These vom "Ende der Kunst" - gemeint ist das Ende der Kunst ihrer absoluten Bestimmung nach: als Kunstreligion. Nichts desto Trotz wird der Kunst immer wieder ein metaphysischer Sinn gegeben, wie etwa im Symbolismus, wo es darum geht, das Zeitlose und Ewige in der Zeit auszudrücken. Ein schönes Beispiel dafür sind die Nocturnes für Orchester von Claude Debussy. Im ersten Stück "Nuages" ("Wolken") wollte Debussy - so hat er das selbst gesagt - die Ewigkeit ausrücken: Wolken, die ruhig gleichmäßig ziehen, von nirgendwoher kommen und nirgendwohin gehen. Eine ziellose Bewegung, die das Gefühl von Zeitlosigkeit entstehen läßt. Der Philosoph Wilhelm Weischedel (ein Heidegger-Schüler) nennt das "ontologische Erfahrung". Ein anderes schönes Beispiel für solche Kunstmetaphysik: Henri Matisse, der eine monochrome, blaue Fläche malt.

                                Natürlich muß nicht jede Kunst einen solchen metaphysischen Anspruch haben und eine transzendente "ontologische Erfahrung" vermitteln. Wenn Kunst das "Ins-Werk-setzen von Welt" ist und das betreffende Weltverständnis betont antireligiös, dann ist es auch die Kunst. Bei wirklich großer Kunst ist es allerdings beglückend so, daß nicht wir etwas aufschließen, sondern das Kunstwerk uns etwas erschließt. Das ist seine wahrheits- und weltstiftende Funktion. Kunst hat nicht nur einen ästhetischen Wert, sondern auch einen Erkenntniswert!

                                Beste Grüße
                                Holger
                                Zuletzt geändert von Gast; 24.05.2009, 10:20.

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