Der Liedbegleiter Gerald Moore – Partner von Dietrich Fischer-Dieskau – fragte einmal: „Bin ich zu laut?“ Er und jeder andere Interpret hätte sich auch fragen können: Bin ich „zu langsam“ oder „zu schnell“? Die Beantwortung dieser Frage hängt ganz wesentlich davon ab, was für ein Zeitverständnis man hat: die „gemessene“ oder die „gefühlte“ Zeit ist ja nicht ein und dasselbe. Eine mit dem Metronom gemessene „langsame“ Zeit kann, sie muß aber nicht als „zu langsam“ empfunden werden. Unser Zeitempfinden ist von verschiedenen Faktoren abhängig wie z.B. der dynamischen Gestaltung, der Fähigkeit des Interpreten, einen Spannungsbogen über größere Zeitdistanzen aufrecht zu erhalten. Ein Meister wie Svjatolav Richter wird uns auch in langsamsten Tempo nicht langweilig vorkommen, während bei einem anderen weniger begabten, der objektiv „schneller“ spielt, die Weile uns u.U. doch sehr lang wird. Man darf vermuten, dass in vielen Fällen Interpreten vielleicht deshalb flüssigere Tempi bevorzugen, weil das langsame viel schwerer zu beherrschen ist: Die Gefahr, dass das Stück auseinander fällt, ist groß. Nicht zufällig sprach Bernhard Haitink einmal mit Blick auf seine 2. Aufnahme der 7. Symphonie von Gustav Mahler davon, dass er im Alter den Mut gefunden habe zum langsameren Tempo.
Wie kommen die unterschiedlichen Tempi zustande? Die Raumakustik spielt eine nicht unerhebliche Rolle. So berichtete Glenn Gould, dass er verschiedene Tempi wählt, je nachdem, ob er in einem großen oder kleinen Saal spielt. Jewgeny Kissin wurde anlässlich des diesjährigen Chopin-Jubiläumskonzertes in Warschau, wo er Chopins 2. Klavierkonzert spielte, gefragt, warum er das Konzert heute deutlich langsamer spiele als im Alter von 14 Jahren. Seine Antwort: „Ich habe heute vielleicht mehr zu sagen.“ Ohne Frage hat die Lebenszeit Einfluss auf das Zeitempfinden, der Lebensrhythmus ändert sich mit dem Alter: Deshalb kann es sein, dass der alternde Interpret, der ein langsameres Tempo wählt, dieses gar nicht als langsamer empfindet. Aber es gibt selbstverständlich auch die bewusste Wahl der Langsamkeit. So berichtet Wolfgang Sawallisch von einer Probe des Schumann-Konzertes mit seinem Freund Emil Gilels: „Emil, das ist zu langsam!“ Der alte Gilels war berühmt für seine langsamen Tempi. „Emil“ nahm den Einspruch seines Freundes so auf, dass er ihm über eine Stunde lang – langsam – aus Schumanns Klavierwerk vorspielte. Daraufhin war Sawallisch einfach sprachlos und akzeptierte schließlich Gilels´ „langsame“ Zeitvorstellung beim Schumann-Konzert.
Emil Gilels verfügt über ein wahrlich außergewöhnliches Formempfinden. Sein langsamer Vortragsstil bei Beethoven z.B. öffnet uns deshalb neue Welten. Das ist eine atemberaubende Liebe zum Detail, die deshalb nicht „manieristisch“ wirkt, weil sie niemals den Blick für das Ganze verliert. Das Alter bedeutet einen Gewinn an Erfahrungsreichtum. Der wiederholte Umgang des Interpreten mit derselben Musik spiegelt dies: Er entdeckt eine seelische Komplexität auch im Unscheinbaren, die einfach mehr „Zeit“ braucht, um wahrgenommen und ästhetisch „ausgekostet“ zu werden. In „Manierismus“ schlägt eine solche Detailverliebtheit nur dann um, wenn sie zum Selbstzweck wird. Auch das gibt es freilich. Manche Interpreten wollen „auffallen“, auf sich aufmerksam machen. Bei dem heute doch sehr hohen technischen Niveau beeindruckt man kaum noch durch rasche Tempi, wohl aber durch das langsame. Da hat man die Möglichkeit zur Selbstinszenierung und die Chance ist da, als „originell“ wahrgenommen zu werden. Zu erkennen, welche „Intention“ hinter dem bewusst langsamen Tempo liegt, ist letztlich eine Leistung des Hörers, seiner geschulten Urteilskraft.
Sicher, bestimmte physische Kraftakte sind im Alter nicht mehr möglich. Einem Horowitz oder Gilels deshalb zu unterstellen, sie hätten nur nicht mehr so furios zu Werke gehen können wie in ihrer jugendlichen „Sturm und Drang“-Zeit, wäre jedoch zu oberflächlich. Sie wollen einfach nicht mehr. Horowitz sagte über seine 1978iger Aufnahme des 3. Rachmaninow-Konzertes, dass er sie der alten eindeutig vorziehe. Er empfand sie also als musikalisch „reifer“. Zur Lebensklugheit gehört auch eine Klugheit des Interpreten, die Möglichkeiten des jeweiligen Alters zu nutzen – aus Stärke und nicht aus Schwäche wählen die Bedeutenden unter ihnen also das „langsamere“ Tempo. Bei einem jugendlichen Interpreten besteht die Gefahr, dass der langsame Vortrag mangels gesättigter Lebenserfahrung einfach nur langatmig wirkt, während umgekehrt beim reifen Interpreten die Schnelligkeit als eine Sorglosigkeit und Oberflächlichkeit erscheinen kann – musikalische Glätte dort, wo man einen Gang in die Tiefe erwartet. Und manche – wie Glenn Gould – wollen mit dem langsamen Tempo etwas demonstrieren, ein philosophisch-ästhetisches Bekenntnis ablegen. Das Zeitlupentempo, mit dem Gould etwa den Kopfsatz von Scriabins 3. Klaviersonate angeht, ist sicher nicht im Sinne des Komponisten. Aber dieses musikalische Experiment erschließt etwas: Die formale Struktur bekommt man auf dem Tablett serviert – die Architektur dieses Satzes steht gewissermaßen da als von allem virtuos-pathetischen Fleisch befreites Skelett. Das hinterlässt bleibende Eindrücke.
Es wäre allerdings wiederum eine falsche Verallgemeinerung, dass ältere Interpreten grundsätzlich langsamere Tempi wählen und jüngere immer die Geschwindigkeit bevorzugen. Der altersgelassene Claudio Arrau etwa bevorzugte eher flüssige Tempi. Und Bernhard Haitink, der in seiner Aufnahme von „Daphnis et Chloe“ mit dem Boston SO 1989 „Lever d´un jour“ mit einer Brucknerschen Langsamkeit zelebrierte, nimmt dieses Finale in seiner fast zwanzig Jahre späteren Aufnahme mit dem Chicago SO in deutlich zügigerem Tempo.
Schließlich wäre da noch Sergui Celibidache, dessen Vorliebe für langsame Tempi oft missverstanden wird als ein „Bekenntnis“ zur Langsamkeit. Für Celibidache, der Philosophie studiert hat und sich mit der Zeittheorie von Edmund Husserl beschäftigte, gibt es nämlich nur ein einziges, „absolut“ richtiges Tempo einer musikalischen Aufführung. Für ihn ist das Tempo dann richtig getroffen, wenn der Anfang im Ende präsent bleibt, eine Gleichzeitigkeit des Hörens entsteht. Was ist gemeint? Es geht darum, zugleich alle Details wie auch den Zusammenhang eines Musikstücks im Gedächtnis zu behalten. Ist das Tempo zu schnell, dann wird zwar der Blick für den Zusammenhang gewahrt, das Einzelne jedoch vergessen, ausgelöscht auf Kosten der Wahrnehmung des Ganzen. Umgekehrt bewirkt das zu langsame Tempo, dass sich die Wahrnehmung des geordneten Ganzen auflöst und der musikalische Sinnzusammenhang in lauter unzusammenhängende Einzelereignisse zerfällt. Das „absolut“ richtige Tempo gibt es allerdings nur für die jeweilige Aufführung und ihre situativen Bedingungen wie etwa die besondere Raumresonanz. Dieser Unwiederholbarkeit der zeitlichen Dimension eines Konzertereignisses wegen lehnte Celibidache Schallplattenaufnahmen prinzipiell ab. Wer also einen Mitschnitt von Celibidache als „zu langsam“ empfindet, dem würde der Meister sich selbst bestätigt fühlend sagen: Es ist unmöglich, das musikalische Ereignis als eine musikalische Konservendose aufbewahren zu wollen – und sich aus dem Himmel wohl bitter beklagen über seine Erben, welche diese Aufzeichnungen gegen seinen Willen freigegeben haben – eine Pietätlosigkeit, wofür wir uns als Musikliebhaber natürlich nur bedanken können. Für Celibidaches Denken über Musik spricht sein „Bolero“. Die meisten Interpreten brauchen für Maurice Ravels populäres Stück zwischen 12 und 14 Minuten – Celibidache dagegen 18! Ist das zu langsam? Nein! Denn die Tänzerin Ida Rubinstein hatte bei Ravel ein Stück bestellt, das exakt 18 Minuten dauern sollte. So ist es auch formal aufgebaut. Celibidaches Intuition trifft hier also genau ins Schwarze. Kurios: Arturo Toscanini wollte als Aufführungspraktiker mit Erfahrung den vermeintlich unerfahrenen Ravel darüber belehren, dass sein merkwürdiges Stück, das nur aus Wiederholungen besteht, wenn überhaupt nur dann Erfolg beim Publikum haben könne, wenn es doppelt so schnell wie vorhergesehen gespielt würde. Toscanini fertigte den „Bolero“ also in ungefähr 9 Minuten ab – und Ravel grollte, ohne etwas auszurichten. Ravel selbst hat den „Bolero“ übrigens dirigiert – in der entstandenen Aufnahme benötigt er 16 Minuten und 14 Sekunden.
(Ende Teil 1)
Wie kommen die unterschiedlichen Tempi zustande? Die Raumakustik spielt eine nicht unerhebliche Rolle. So berichtete Glenn Gould, dass er verschiedene Tempi wählt, je nachdem, ob er in einem großen oder kleinen Saal spielt. Jewgeny Kissin wurde anlässlich des diesjährigen Chopin-Jubiläumskonzertes in Warschau, wo er Chopins 2. Klavierkonzert spielte, gefragt, warum er das Konzert heute deutlich langsamer spiele als im Alter von 14 Jahren. Seine Antwort: „Ich habe heute vielleicht mehr zu sagen.“ Ohne Frage hat die Lebenszeit Einfluss auf das Zeitempfinden, der Lebensrhythmus ändert sich mit dem Alter: Deshalb kann es sein, dass der alternde Interpret, der ein langsameres Tempo wählt, dieses gar nicht als langsamer empfindet. Aber es gibt selbstverständlich auch die bewusste Wahl der Langsamkeit. So berichtet Wolfgang Sawallisch von einer Probe des Schumann-Konzertes mit seinem Freund Emil Gilels: „Emil, das ist zu langsam!“ Der alte Gilels war berühmt für seine langsamen Tempi. „Emil“ nahm den Einspruch seines Freundes so auf, dass er ihm über eine Stunde lang – langsam – aus Schumanns Klavierwerk vorspielte. Daraufhin war Sawallisch einfach sprachlos und akzeptierte schließlich Gilels´ „langsame“ Zeitvorstellung beim Schumann-Konzert.
Emil Gilels verfügt über ein wahrlich außergewöhnliches Formempfinden. Sein langsamer Vortragsstil bei Beethoven z.B. öffnet uns deshalb neue Welten. Das ist eine atemberaubende Liebe zum Detail, die deshalb nicht „manieristisch“ wirkt, weil sie niemals den Blick für das Ganze verliert. Das Alter bedeutet einen Gewinn an Erfahrungsreichtum. Der wiederholte Umgang des Interpreten mit derselben Musik spiegelt dies: Er entdeckt eine seelische Komplexität auch im Unscheinbaren, die einfach mehr „Zeit“ braucht, um wahrgenommen und ästhetisch „ausgekostet“ zu werden. In „Manierismus“ schlägt eine solche Detailverliebtheit nur dann um, wenn sie zum Selbstzweck wird. Auch das gibt es freilich. Manche Interpreten wollen „auffallen“, auf sich aufmerksam machen. Bei dem heute doch sehr hohen technischen Niveau beeindruckt man kaum noch durch rasche Tempi, wohl aber durch das langsame. Da hat man die Möglichkeit zur Selbstinszenierung und die Chance ist da, als „originell“ wahrgenommen zu werden. Zu erkennen, welche „Intention“ hinter dem bewusst langsamen Tempo liegt, ist letztlich eine Leistung des Hörers, seiner geschulten Urteilskraft.
Sicher, bestimmte physische Kraftakte sind im Alter nicht mehr möglich. Einem Horowitz oder Gilels deshalb zu unterstellen, sie hätten nur nicht mehr so furios zu Werke gehen können wie in ihrer jugendlichen „Sturm und Drang“-Zeit, wäre jedoch zu oberflächlich. Sie wollen einfach nicht mehr. Horowitz sagte über seine 1978iger Aufnahme des 3. Rachmaninow-Konzertes, dass er sie der alten eindeutig vorziehe. Er empfand sie also als musikalisch „reifer“. Zur Lebensklugheit gehört auch eine Klugheit des Interpreten, die Möglichkeiten des jeweiligen Alters zu nutzen – aus Stärke und nicht aus Schwäche wählen die Bedeutenden unter ihnen also das „langsamere“ Tempo. Bei einem jugendlichen Interpreten besteht die Gefahr, dass der langsame Vortrag mangels gesättigter Lebenserfahrung einfach nur langatmig wirkt, während umgekehrt beim reifen Interpreten die Schnelligkeit als eine Sorglosigkeit und Oberflächlichkeit erscheinen kann – musikalische Glätte dort, wo man einen Gang in die Tiefe erwartet. Und manche – wie Glenn Gould – wollen mit dem langsamen Tempo etwas demonstrieren, ein philosophisch-ästhetisches Bekenntnis ablegen. Das Zeitlupentempo, mit dem Gould etwa den Kopfsatz von Scriabins 3. Klaviersonate angeht, ist sicher nicht im Sinne des Komponisten. Aber dieses musikalische Experiment erschließt etwas: Die formale Struktur bekommt man auf dem Tablett serviert – die Architektur dieses Satzes steht gewissermaßen da als von allem virtuos-pathetischen Fleisch befreites Skelett. Das hinterlässt bleibende Eindrücke.
Es wäre allerdings wiederum eine falsche Verallgemeinerung, dass ältere Interpreten grundsätzlich langsamere Tempi wählen und jüngere immer die Geschwindigkeit bevorzugen. Der altersgelassene Claudio Arrau etwa bevorzugte eher flüssige Tempi. Und Bernhard Haitink, der in seiner Aufnahme von „Daphnis et Chloe“ mit dem Boston SO 1989 „Lever d´un jour“ mit einer Brucknerschen Langsamkeit zelebrierte, nimmt dieses Finale in seiner fast zwanzig Jahre späteren Aufnahme mit dem Chicago SO in deutlich zügigerem Tempo.
Schließlich wäre da noch Sergui Celibidache, dessen Vorliebe für langsame Tempi oft missverstanden wird als ein „Bekenntnis“ zur Langsamkeit. Für Celibidache, der Philosophie studiert hat und sich mit der Zeittheorie von Edmund Husserl beschäftigte, gibt es nämlich nur ein einziges, „absolut“ richtiges Tempo einer musikalischen Aufführung. Für ihn ist das Tempo dann richtig getroffen, wenn der Anfang im Ende präsent bleibt, eine Gleichzeitigkeit des Hörens entsteht. Was ist gemeint? Es geht darum, zugleich alle Details wie auch den Zusammenhang eines Musikstücks im Gedächtnis zu behalten. Ist das Tempo zu schnell, dann wird zwar der Blick für den Zusammenhang gewahrt, das Einzelne jedoch vergessen, ausgelöscht auf Kosten der Wahrnehmung des Ganzen. Umgekehrt bewirkt das zu langsame Tempo, dass sich die Wahrnehmung des geordneten Ganzen auflöst und der musikalische Sinnzusammenhang in lauter unzusammenhängende Einzelereignisse zerfällt. Das „absolut“ richtige Tempo gibt es allerdings nur für die jeweilige Aufführung und ihre situativen Bedingungen wie etwa die besondere Raumresonanz. Dieser Unwiederholbarkeit der zeitlichen Dimension eines Konzertereignisses wegen lehnte Celibidache Schallplattenaufnahmen prinzipiell ab. Wer also einen Mitschnitt von Celibidache als „zu langsam“ empfindet, dem würde der Meister sich selbst bestätigt fühlend sagen: Es ist unmöglich, das musikalische Ereignis als eine musikalische Konservendose aufbewahren zu wollen – und sich aus dem Himmel wohl bitter beklagen über seine Erben, welche diese Aufzeichnungen gegen seinen Willen freigegeben haben – eine Pietätlosigkeit, wofür wir uns als Musikliebhaber natürlich nur bedanken können. Für Celibidaches Denken über Musik spricht sein „Bolero“. Die meisten Interpreten brauchen für Maurice Ravels populäres Stück zwischen 12 und 14 Minuten – Celibidache dagegen 18! Ist das zu langsam? Nein! Denn die Tänzerin Ida Rubinstein hatte bei Ravel ein Stück bestellt, das exakt 18 Minuten dauern sollte. So ist es auch formal aufgebaut. Celibidaches Intuition trifft hier also genau ins Schwarze. Kurios: Arturo Toscanini wollte als Aufführungspraktiker mit Erfahrung den vermeintlich unerfahrenen Ravel darüber belehren, dass sein merkwürdiges Stück, das nur aus Wiederholungen besteht, wenn überhaupt nur dann Erfolg beim Publikum haben könne, wenn es doppelt so schnell wie vorhergesehen gespielt würde. Toscanini fertigte den „Bolero“ also in ungefähr 9 Minuten ab – und Ravel grollte, ohne etwas auszurichten. Ravel selbst hat den „Bolero“ übrigens dirigiert – in der entstandenen Aufnahme benötigt er 16 Minuten und 14 Sekunden.
(Ende Teil 1)
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