Ankündigung

Einklappen
Keine Ankündigung bisher.

Transkriptionen und Paraphrasen - Plädoyer für >anrüchige< Musik

Einklappen
X
 
  • Filter
  • Zeit
  • Anzeigen
Alles löschen
neue Beiträge

    Transkriptionen und Paraphrasen - Plädoyer für >anrüchige< Musik

    Noch heute denke ich gerne zurück an jenen Konzertabend vor etlichen Jahren, als Cyprien Katsaris in der Düsseldorfer Tonhalle zu Gast war. Bei schwüler Sommerhitze trug er nicht nur Beethovens Sonate op. 26 und späte Liszt-Stücke wie >Nuages gris< vor, sondern stellte eine der monumentalen Liszt Transkription von Beethovens Symphonien -- wenn ich mich recht erinnere war es die 3. oder 6 -- ins Zentrum. Ein beeindruckendes Konzert, das vom Publikum mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Doch der anwesende Kritiker der >Rheinischen Post< wollte den Beifall nicht teilen, sondern schrieb einen entrüsteten, polemischen Verriß. Am nächsten Tag war in der Zeitung zu lesen: So ein unseriöses Stück wie diese Liszt-Transkription gehöre nicht in den Konzertsaal! Katsaris habe sich mit einem solchen Programm als Musiker ins Abseits gestellt, er sei ein mit Effekten prunkender Zirkusartist ohne künstlerischen Anspruch, den man in Zukunft nicht mehr ernst zu nehmen brauche! Darauf meldete sich ein Kritikerkollege in einem längeren Leserbrief zu Wort und nahm Katsaris mit seinem Liszt-Programm in Schutz. Man müsse diesen Liszt-Beethoven ja nicht mögen, es sei aber unbestreitbar, daß die Transkription sehr gut gemacht sei, Liszt sich sehr penibel und ehrlich an Beethovens Partitur gehalten habe.

    Diese Geschichte ist bezeichnend für den Umgang mit einer Art von musikalischer Literatur, die im europäischen Musikleben einmal sehr populär und verbreitet war: die Transkriptionen und Paraphrasen. Johann Sebastian Bach etwa transkribierte Vivaldi-Konzerte für die Orgel und gab das entstandene Werk unter seinem Namen heraus, ohne es als Transkriptionen eines Vivaldi-Originals kenntlich zu machen. Woher also kommt diese brüske Ablehnung, wenn man bedenkt, daß schon zur Barockzeit das Transkribieren allgemein übliche und völlig unanstößige Praxis war? Am besten man blickt zurück auf das Revolutionsjahr 1848. In diesem Jahr endete schlagartig die Virtuosenkarriere von Franz Liszt. Liszts titanische Programme im Wiener Konzertvereinssaal in den 1830iger Jahren begannen meist mit einer großen Beethoven-Sonate wie der >Appassionata<. Darauf folgten neben Werken von Chopin sowie Eigenkompositionen von Liszt immer wieder seine Paraphrasen und Transkription -- etwa die Opern-Paraphrasen von Verdi und Bellini sowie einige der von Liszt so geliebten Schubert-Lieder. Zum Schluß durfte jemand aus dem Publikum eine Melodie vorgeben, über die Liszt dann frei improvisierte.

    Mit all dem war nach 1848 endgültig Schluß! Das bürgerliche Publikum wollte offenbar nur noch klassische Werke hören. Damals bildete sich die noch heute übliche Praxis aus, wonach ein klassisches Konzert im Vortrag fertig auskomponierter Stücke besteht. Das Improvisieren, wie jede Form des Bearbeitens von Werken wird nun als mehr oder weniger unseriös empfunden, gilt im Prinzip als anrüchig. Verstehen läßt sich dieser Sinneswandel nur vor dem Hintergrund eines ästhetischen Wandels, einer sich im gebildeten Bürgertum mehr und mehr verbreitenden klassizistischen Werkästhetik. Der Grundgedanke des Klassizismus ist das Kunstwerk als ein innerlich vollendetes und deshalb unveränderliches und überzeitliches Gebilde: Man kann vom Werk nichts wegnehmen oder hinzufügen, ohne es überhaupt zu zerstören. Der Klassizismus identifiziert den geistigen Inhalt des Musikstücks mit seiner Form, d.h. er ist damit im Prinzip nicht zu trennen von dem auskomponierten und im Notentext fixierten Werk, gleichsam in ihm verkörpert -- so wie die Idee des Bildhauers schließlich in der Statue leibliche Gestalt annimmt. Das Transkribieren und Paraphrasieren erscheint vor diesem klassizistischen Hintergrund gewissermaßen als Tempelschändung dem unantastbaren Werk gegenüber, insofern die Bearbeitung das Vollendete als unvollendet, das Perfekte als mangelhaft, das in seiner Abgeschlossenheit sich selbst Genügende als ergänzungsbedürftig erscheinen läßt.

    Ein Komponist wie Ferrucio Busoni, welcher an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhunderts die Tradition des Bearbeitens von klassischen Werken weiter pflegte, sah sich deshalb gezwungen, solchen Einwänden philosophisch-ästhetisch zu begegnen. Busoni war und ist berühmt für seine Bach-Transkriptionen für Klavier. In den USA redete man seine Frau sogar mit >Mrs. Bach-Busoni< an! Er war Schüler von Franz Liszt, ein genialer Pianist und avancierter Komponist, der mit Vierteltönen experimentierte und die Idee der elektronischen Musik, die damals natürlich Utopie bleiben mußte, entwarf. Als Professor in Berlin setzte er sich sehr für zeitgenössische Musik ein, u.a. für Schönberg. In seinem "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" von 1916 findet sich folgende Reflexion über die Problematik der Transkription:

    ">Notation< (>Scription<) bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein recht mißverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit >Transkriptionen< erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen. (...) Der Einfall wird zu einer Sonate oder zu einem Konzert (...). Von dieser ersten zu einer zweiten Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig. Doch wird im allgemeinen nur von der zweiten Aufhebens gemacht. Dabei übersieht man, daß eine Transkription die Originalfassung nicht zerstört, also ein Verlust dieser durch jene nicht entsteht. --"

    Für Busoni ist das auskomponierte Werk also nicht identisch mit der geistigen Idee, welche ihm zugrundeliegt, sondern bereits eine Transkription, nicht das geistige Original, sondern bloß eine Einkleidung und Verkleidung. Deshalb ist es auch kein Problem, das bereits einmal Transkribierte weiter zu transkribieren, das Kleid also zu wechseln. Busoni opponiert hier mit seinen geistigen Vätern Wagner und Liszt gegen den ästhetischen Klassizismus. Für Wagner und Liszt ist die Form immer Ausdruck eines von ihr verschiedenen Inhalts; Form und Inhalt fallen also nicht einfach zusammen wie im Klassizismus. Der musikalische Gedanke nimmt in einer Komposition Gestalt an -- aber dieses bedeutet dem Ausdrucksprinzip folgend schon eine Veränderung des Originals, eine Transkription des abstrakten Gedankens, die entsprechend mehr oder weniger gelungen sein kann: Das Kleid paßt mehr oder weniger gut zu demjenigen, dem es angezogen wird.

    (Ende Teil 1)
    Zuletzt geändert von Gast; 29.04.2009, 15:35.

    #2
    Teil 2
    Welches sind aber ganz konkret die Gründe dafür, ein Werk zu transkribieren und zu paraphrasieren? Liszt sah sich als Anwalt der Komponisten seiner Zeit und in der Pflicht, sie durch seine Konzerte einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Das hat er in bezug auf Klavier-, Lied- und Orchesterliteratur von Chopin, Schumann, Schubert, Beethoven, Berlioz mit seinen Interpretationen und Transkriptionen, aber auch für die damals moderne Oper -- Verdi und Bellini -- mit seinen Opernparaphrasen getan. Man muß sich vergegenwärtigen, daß es im 19. Jahrhundert weder Musikkonserven noch einen Rundfunk gab, der eine leichte und universelle Verbreitung von Musik hätte garantieren können. Zudem waren die Möglichkeiten von großen Konzertaufführungen im Vergleich zur heutigen Zeit sehr begrenzt. Liszts Klaviertranskriptionen von Beethovens Symphonien gaben so vielen Menschen überhaupt die Gelegenheit, diese Werke überhaupt einmal in einer Konzertaufführung zu erleben.

    Dieser aufführungspraktische Gesichtspunkt verschränkt sich aber zugleich mit einem ästhetischen. Das ist wiederum sehr schön bei Mahler und Busoni nachvollziehen. Mahler hat Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" für großes Orchester transkribiert. Warum tat er das? Den Zusammenhang kann man sich aus seinen Briefen erschließen, in denen die merkwürdige Geringschätzung Mahlers der Kammermusik gegenüber zum Ausdruck kommt. Einer seiner Schülerinnen gibt Mahler den gut gemeinten Rat:

    "Also fort mit dem Klavier! Fort mit der Violine! Die sind gut für die "Kammer", wenn Sie allein oder in Gesellschaft eines guten Kameraden sich die Werke der großen Meister vergegenwärtigen wollen -- als Nachhall -- etwa wie ein Kupferstich Ihnen das farbenglänzende Gemälde eines Raffael oder Böcklin in die Erinnerung zurückruft."

    Kammermusik als blasse Kopie, als müder Abglanz des Originals großer symphonischer Musik! Mahler folgt hier ganz dem Ideal der Symphonie, wie es die Romantik proklamiert hatte. Beethovens Symphonien sprechen zur ganzen Menschheit und das geschieht im öffentlichen Konzert. Dagegen erscheint die Kammermusik nun als >nur< privat -- im Sinne der lateinischen Urbedeutung von >privatio<, wörtlich: >Beraubung<. Kammermusik beraubt die Musik ihrer eigentlichen Botschaft; ihr haftet grundsätzlich der Mangel der Weltlosigkeit an. Sie erfüllt deshalb nicht die wahre und höchste Bestimmung der Musik, wie sie das Ideal der Symphonie verkörpert. Und deshalb wird Schuberts Streichqartett von Mahler symphonisch transkribiert und damit in seinem Sinne zu wirklich ursprünglicher und universeller Musik.

    Die Paraphrase unterscheidet von der Transkription, daß sie über die bloße Übersetzungstätigkeit hinausgeht und die Originalkomposition zum Anlaß nimmt, über sie in mehr oder weniger freier Form zu phantasieren. Bei Liszt gibt es einerseits eine scharfe Trennung zwischen Paraphrase und Transkription. So enthält er sich in seiner Transkription der Beethoven-Symphonien jeglichen Paraphrasierens, um die Monumentalität der Werke nicht in Frage zu stellen. Die Transkriptionen für Klavier seiner eigenen Lieder wie die drei Liebesträume etwa oder die Petrarca-Sonnette zeigen sich oft sogar strenger als das Lied-Original. Das Lied als Instrumentalstück wird der Konstruktivität einer Idee unterworfen, wie sie die Instrumentalmusik in reiner Form verkörpert. Liszts meisterhafte Schubert-Liedtranskriptionen halten sich entweder strikt an das Original oder paraphrasieren so dezent, daß solche Eingriffe in keiner Weise von Schuberts Musik ablenken. Die Opernparaphrasen dagegen sind freie Phantasien über Themen der Oper, in denen Liszt seine eigene Persönlichkeit einfließen läßt, etwa den bohrenden Skeptizismus und eine an Nihilismus grenzende Verzweiflung wie in der hochvirtuosen Norma-Paraphrase, die zunächst in Bellinis Kantilenen schwelgt, um dann ins bodenlos Destruktive einer sinnentleerten, diabolisch auftrumpfenden Rhythmik abzugleiten.

    Ende Teil 2
    Zuletzt geändert von Gast; 29.04.2009, 18:58.

    Kommentar


      #3
      Teil 3
      Die Paraphrase kann auf das Original wieder mehr oder weniger ausführlich Bezug nehmen. Den aberwitzig virtuosen >Totentanz< für Klavier und Orchester betitelt Liszt als >Konzert-Paraphrase<. Paraphrasiert wird hier das bekannte >Dies Irae<- Motiv ("Tage des Zorns", gemeint ist der Zorn Gottes angesichts der Sündhaftigkeit des Menschen, der bestraft und verdammt), entnommen einem gregorianischen Hymnus, welches von den Komponisten immer wieder als Sinnbild schicksalhafter Todesverfallenheit und Verdammung zitiert wird: neben Liszt etwa von Johannes Brahms, Hector Berlioz, Gustav Mahler und Sergei Rachmaninow. In Liszts >Totentanz< wird die Paraphrase verkürzt auf das bedeutungsbeladene Zitat eines symbolischen Kerngedankens und nimmt entsprechend den Sinn einer den verdichteten Gedanken ausspinnenden, freien musikalischen Fantasie in Form einer Variationskette an. Liszt transkribierte Schuberts >Ave Maria< (die meisten Liebhaber klassischer Musik kennen das Stück durch die populäre, sehr opernhafte Version von Charles Gounod), schrieb aber auch eine sehr freie, düstere und mystische Paraphrase (>Ave Maria< S 182 "Die Glocken von Rom"), wo Bezüge auf die Quellen zu Musaiksteinchen in einem Kaleidoskop von assoziativen Erinnerungen werden. Der thematische Ursprung und damit die Paraphrase selbst ist als solche kaum noch erkennbar, die Erinnerung an Schubert wird von Anfang an überlagert von der an Liszts eigenes Klavierstück >Sposalizio< aus den "Annees de Pelerinage", romantisch-raffaelistische Marienverehrung, ein musikalisch-hymnisches Bild des Gemäldes von Raffael: "Die Vermählung Marias".

      Aus der historischen Distanz unseres musikalischen Selbstverständnisses heraus, das doch eher von dem neusachlichen Anspruch der Werktreue und dem Historismus (das Bemühen um historische Aufführungspraxis) geprägt ist, stellt sich die Frage: Woher kommt dieses Bedürfnis zum Paraphrasieren, zur musikalischen Fantasie, welche die Werke zum Anlaß musikalischer Eigenschöpfung und Veränderung nimmt? Der Antwort auf diese Frage kommt man wiederum bei Richard Wagner auf die Spur: "Von Menschen, die sich stets aus dem Leben wahrhaft fortentwickeln, ist, streng genommen, dieselbe Wirkung von der Aufführung desselben dramatischen Werkes gar nie zu gewinnen; und dem erneuten Verlangen könnte nur ein neues Kunstwerk entsprechen, das wiederum aus einer ebenfalls neuen Entwicklungsphase des Künstlers hervorgegangen ist. Ich berühre hier (...) das Bedürfnis nach dem stets neuen, immer der Gegenwart unmittelbar entsprungenen und ihr allein zugehörigen Kunstwerke der Zukunft, das eben nicht als eine monumentale, sondern das Leben selbst, in seinen verschiedensten Momenten wiederspiegelnde, in unendlich wechselnder Vielfalt sich kundgebende Erscheinung verstanden werden kann. --"

      Damit scheint Wagner das futuristische Manifest von Tommaso Marinetti vorweg zu nehmen. Das Leben ist ein niemals aufzuhaltender Fluß, das sich unaufhörlich weiter entwickelt. Also kann auch das Kunstwerk diesen Lebensfluß nicht stillstellen. Wäre es da nicht konsequent, die Vorstellung, daß die Kunst bleibende Werke hervorbringt, gänzlich zu verabschieden und die Museen in die Luft zu sprengen, wie es Marinetti forderte? Aus dieser paradoxen Situation rettet Wagner und Liszt schließlich die romantische Idee des Kunstwerks als eines "work in progress". Demnach ist der Schaffensprozeß in einem konkreten Kunstwerk niemals abgeschlossen, sondern jede Generation dichtet an dem einmal geschaffenen Werk immer weiter. Und dieses Weiterdichten verhindert, daß das Kunstwerk zum leblosen Monument erstarrt, indem es gleichsam immer wieder verlebendigt wird. Es geht also nicht darum, das Original zu verfälschen durch die vermeintliche Zerstörung seiner Integrität. Im Gegenteil: Die Veränderung des Werkes erscheint mit Blick auf seine historische Vergänglichkeit als die einzige Möglichkeit, es im buchstäblichen Sinne am Leben zu halten.

      Bei Busoni ist diese Ambition deutlich zu erkennen, einerseits der Geschichtlichkeit des Lebens gerecht zu werden, aber andererseits die Werkidee nicht aufgeben zu müssen:

      "Der Geist eines Kunstwerks, das Maß der Empfindung, das Menschliche, das an ihm ist -- sie bleiben durch wechselnde Zeiten unverändert an Wert; die Form, die diese drei aufnahm, die Mittel, die sie ausdrückten, und der Geschmack, den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgoß, sie sind vergänglich und rasch alternd."

      Busoni unterscheidet den zeitlosen Geist von der zeitgebundenen Form. Die Form als bloßes Kleid der Idee unterliegt wechselnden Moden und überdauert somit die Zeit nicht. Was für die Inszenierung eines Dramas im Theater gilt, die sich immer an der Jetzt-Zeit orientiert -- welcher Regisseur würde heute schon Wagners >Ring< so inszenieren wie 1870! -- gilt nun auch für den schöpferischen Umgang des Interpreten mit den großen Werken der Klassiker wie Bach oder Beethoven: Die sich im Verlaufe der Geschichte wiederholende, immer wieder andere Transkription einer Transkription wandelt also nicht den ewigen Geist, sondern nur diejenige, der historischen Alterung unterliegende Form, in welcher der geistige Inhalt zu einer bestimmten Zeit lebendig in Erscheinung tritt, paßt die Form also dem gegenwärtigen Zeitgeschmack an und stellt damit so etwas wie einen ewigen Verjüngungsbrunnen für die schon angestaubten Werke dar. Die Bearbeitung begeht also keine Tempelschändung, weil sie nur die äußere Fassade ändert, das Allerheiligste -- die geistige Idee -- aber unangetastet läßt. Es zeigt sich hier sehr deutlich, daß Busonis ästhetisches Programm dem Klassizismus wenigstens zur Hälfte entgegenkommt und insofern weniger radikal erscheint als die umstürzlerische Historisierung der Kunst bei Wagner und Liszt, ihr gewissermaßen den anarchischen Stachel nimmt. Die romantische Idee eines "work in progress", eines offenen und unabschließbaren künstlerischen Schaffensprozesses, bevorzugt die Paraphrase, während sich Busonis Unterscheidung von zeitlosem Geist und zeitlicher Form am Modell des Transkribierens orientiert. Und so ist es auch kein Zufall, daß bei Liszt die Paraphrasen überwiegen, beim Bach begeisterten Busoni dagegen die am Ideal der werktreuen Übersetzung orientierte Transkription.

      Ende des philosophischen Teils.
      Zuletzt geändert von Gast; 29.04.2009, 15:36.

      Kommentar


        #4
        Bilder einer Ausstellung: Die schönsten Transkriptionen und Paraphrasen

        1. Busoni und Bach: Chaconne. Busoni transkribierte Bachs Stück für Violine-Solo (Chaconne d-moll aus der Partita Nr. 2 BWV 1004) für Klavier, seine wohl bekannteste und gelungenste Transkription. Das Klavier klingt fast wie eine Orgel, es werden alle Register gezogen und die Musik bekommt so orchestrale Fülle. Diese gewonnene Fülle paßt einerseits zur Ästhetik des Barock, zudem erlaubt die von Bach verwendete chromatische Harmonik die Versetzung des Originals in eine spätromantische Klangwelt, ohne daß die barocke Welt des Originals Schaden nimmt. Viele große Pianisten haben die Chaconne gerne gespielt, etwa Artur Rubinstein, Lazar Berman, Alicia de Larrocha. Die zweifellos berühmteste und exemplarische Aufnahme jedoch ist die Einspielung, die Busonis Landsmann, der junge Arturo Benedetti Michelangeli, bei EMI-Italiana machte. Er verfügt über eine wahrlich transzendentale Virtuosität, hat den facettenreichen Anschlag, um die Farbpalette der Transkription voll zu entfalten und bringt seinen untrüglichen Sinn für die Klarheit der klassische Form ins Spiel -- passend zu Busonis klassizistischer Seite. ABM spielte Orgel und absolvierte ein Violinstudium, was man der Aufnahme deutlich anmerkt bezüglich der authentischen >geigerischen< Phrasierung. Die Aufnahme gibt es einzeln veröffentlicht oder in der preiswerten Box aus der Icon-Serie (EMI).

        Vor Busoni komponierte schon Johannes Brahms eine hörenswerte Klavier-Transkription von Bachs Chaconne nur für die linke Hand -- überzeugend gespielt von den an der >Pianistenkrankheit< leidenden Michel Beroff und Leon Fleisher.

        2. Liszt und Beethoven: Beethoven weihte gleichsam das Klavier spielende Wunderkind Liszt mit einem Schulterschlag. Diesen >Ritterschlag< des großen Klassikers hat Liszt sein Leben lang nie vergessen. Liszts Transkription sämtlicher Beethoven Symphonien halten sich entsprechend mit sehr viel Pietät an das Original. Allerdings sind Liszts Übertragungen weit mehr als nur simple Klavierauszüge, sondern ästhetisch eigenständige Gebilde. Dort, wo eine >wörtliche< Transkription nicht möglich ist, komponiert er sehr einfühlsam und mit viel Geschmack im Geiste des Klassikers nach. Das ist z.B. eindrucksvoll gelungen in der Gewitterszene aus der Pastorale (Symphonie Nr. 6). Cyprien Katsaris hat mit seiner Einspielung aller Symphonien bei Teldec eine pianistische Großtat verbracht, dabei einige dezente -- klaviertechnisch erschwerende -- Veränderungen vorgenommen. Klaviertechnisch überlegen und mit den Ohren des Dirigenten eines Symphonieorchesters auf dem Klavier nachgehört. Überragend! Z. Zt. sehr günstig zu bekommen! Auch Glenn Gould spielte einige der Liszt-Transkriptionen ein und erweitere den Klaviersatz, indem er mehrere Durchgänge bei der Aufnahme übereinander blendete.

        3. Liszt und die Liedtranskription: Liszt liebte Schubert über alles. Seine Liedtranskriptionen werden von Sängern bewundert für die Fähigkeit, die Singstimme auf dem Klavier erblühen zu lassen. Meist halten sich die Transkriptionen sehr eng an das Original mit bisweilen sehr behutsamen Paraphrasierungen. Überragend die Aufnahme von Jorge Bolet (Decca) auf einem Bechstein-Flügel sowie die Konzertmitschnitte von Lazar Berman. Zu den schönsten und pianistisch dankbarsten Transkriptionen mit Zügen der Paraphrase gehören auch die der polnischen Lieder von Chopin, gespielt etwa von Claudio Arrau. Zu Liszts Meisterleistungen zählt die Transkription von >Isoldes Liebestod< (Richard Wagner), kongenial und absolut geschmackssicher interpretiert von Vladimir Horowitz (seine letzte Studioaufnahme bei Sony). Auch seine eigenen Lieder hat Liszt für Klavier solo transkribiert, so die >Drei Liebesträume<. Der am meisten gespielte ist zweifellos "Oh lieb, so lang Du lieben kannst...". Alle drei wiederum vorbildlich gesanglich vorgetragen von Jorge Bolet. Die drei Petrarca-Sonnette aus dem 2. Band der "Anne'es de Pe`lerinage" hat Liszt ebenfalls transkribiert. Besonders "Pace non trovo" ("Ich finde den Frieden nicht") wird von Pianisten gerne als Konzertstück vorgetragen, so etwa von Horowitz in Moskau 1986 (CD und DVD). Ebenso beeindruckend wie Horowitz die historische Einspielung der viel zu früh verstorbenen Pianistenlegende Dinu Lipatti (EMI). Lazar Bermans Aufnahmen (Gesamtaufnahme der >Annees...< bei der DGG aus den 70igern, die spätere aus Italien von 1996 sowie diverse Konzertmitschnitte) sind vorbildlich textgenau und zelebrieren wahrlich musikalisches Belcanto. Maßstabsetzend! Hier lohnt sich der Vergleich mit dem Lied- Original. Liszt-Lieder sind schwer zu singen, weil man diese überaus heikle Mischung aus lyrischem Lied und musikdramatischem Pathos hinbekommen muß. Die hochdramatische Stimme von Margaret Price (mit Cyprien Katsaris am Klavier) ist leider als Musikkonserve nicht mehr zu hören -- diese faszinierende CD (Teldec) ist vergriffen. Mehr in Richtung Kunstlied als der Oper geht die überlegen-überlegte Interpretation von Fischer-Dieskau (mit Daniel Barenboim). Auch sehr empfehlenswert -- und günstig zu bekommen: Thomas Quasthoff. Von Liszts >Ave Maria< (S 182 "Die Glocken von Rom") gibt es einen beeindruckenden Konzertmitschnitt mit Svjatoslav Richter, bei YouTube ist der allerdings sehr brav gespielte Filmmitschnitt eines Amateurs auf einem Yamaha-Flügel zu sehen. >Sposalizio<, das Liszt zu Beginn zitiert, spielt Lazar Berman in seiner unnachahmlichen Art in Tokyo 1988. Dieses Konzert hat das japanische Fernsehen (NHK) mitgeschnitten -- es ist seit kurzem auf DVD erhältlich und Ausschnitte davon sind wiederum bei YouTube zu sehen.

        4. Liszts Opernparaphrasen: In diesen Stücken verbindet sich die geistvolle Bearbeitung und Poetisierung des Stoffes mit der Zurschaustellung virtuosen Könnens -- eine Emanzipationserklärung des Klaviers: Der Konzertabend wird zur Opernbühne, auf welcher der Alleinunterhalter Liszt sämtliche Rollen übernimmt. Von der Rigoletto- Paraphrase existiert eine Welte-Mignon Rollenaufnahme von Ferruccio Busoni. Überlegen gestaltet und mit allen virtuosen Wassern gewaschen die Aufnahme von Claudio Arrau. Die abgründige Norma-Paraphrase trägt Jorge Bolet auf einem Baldwin-Flügel vor -- beeindruckend!

        5. Liszts Totentanz "Konzertparaphrase über Dies Irae": Das technisch und musikalisch anspruchsvollste Liszt-Konzert. Cziffra, Bolet, Brendel und Krystian Zimerman haben sich dieser Komposition angenommen. Alle sehr hörenswert -- doch herausragend wiederum Bedenedetti Michelangeli. Er verfügt nicht nur über eine unvergleichliche, atemberaubende Virtuosität und magische Klangsinnigkeit, sondern trifft wie kein anderer den geistigen Gehalt des Stücks: Man höre sich seinen meditativ-versunkenen, mit erhabener Schlichtheit gespielten Choral an. Diese Mischung aus meditativer Versenkung und explosiver Extase, seine souveräne musikalische Dramaturgie ist einmalig. Anfang der 60iger spielte ABM den Totentanz im Vatikan. Unter die Zuhörer mischte sich Papst Johannes XXIII, den ABM aus seiner Zeit als Nuntius in Paris kannte und mit ihm befreundet war. Liszt, der so gerne Generalmusikdirektor des Vatikan geworden wäre, hätte das sicher entzückt! ABMs Vatikan-Aufnahmen sind erhältlich als CD-Box, eine noch von ihm selbst autorisierte Veröffentlichung.

        6. Liszts Orgeltranskriptionen: Wirklich markerschütternd besonders die Transkription der kargen und düsteren späten Klavierstücke. Da übertrifft die Orgel an Dämonie das Klavier bei weitem! Beeindruckend die Einspielung von Marie Claire Allain auf einer ausdrucksstarken, hier absolut passenden Orgel von Cavaille-Coll, dem bedeutendsten Orgelbaumeister des 19. Jahrhunderts (Erato).

        7. Liszt, Klavier und Orchester: Liszt hat Schuberts große Wanderer-Fantasie für Klavier und Orchester gesetzt. (Eine Aufahme ist enthalten in der Liszt-Box von Jorge Bolet (Decca) -- zum Vergleich: das Schubert-Original ideal interpretiert von Maurizio Pollini.) Aus der Beschäftigung mit diesem Werk hat er die Konzeption seiner großen h-moll Sonate entwickelt. Wie Schuberts Phantasie ist auch sie einsätzig und blendet den Sonatensatz und die Satzfolge der ganzen Sonate übereinander, so daß die Form insgesamt mehrdeutig wird. Liszt ist zudem der Erfinder der Gattung >Symphonische Dichtung<. Die Klavieretüde >Mazeppa< mit ihrem programmatischen Inhalt bot sich deshalb für eine Orchestertranskription gewissermaßen von selbst an.

        (Ende Teil 1)
        Zuletzt geändert von Gast; 29.04.2009, 15:36.

        Kommentar


          #5
          Teil 2
          8. Gustav Mahler: Busoni kritisiert Schumanns Orchestersatz als zu >klavieristisch<. Mahler empfand es ähnlich und orchestrierte Schumanns Symphonien komplett neu. Mahlers Orchestrierung aller Schumann-Symphonien hat sich Ricardo Chailly angenommen. Die Einspielung mit dem Gewandhausorchester Leipzig ist erhältlich bei Decca. Mahler wollte ursprünglich Klaviervirtuose werden. Auf Welte Mignon eingespielt hat er eine Transkription (besser vielleicht: Klavierauszug!) des 1. Satzes seiner 5. Symphonie, sowie einige Klaviertranskriptionen der "Lieder eines fahrenden Gesellen" sowie von >Das himmlische Leben< -- dem Schlußsatz der 4. Symphonie. Erhältlich in der Condon-Collection, Teldec, Intercord u.a. Faszinierend!

          9. Ein schönes Beispiel für eine gelungene und überaus erfolgreiche Orchestertranskription eines Klavierstücks ist die Orchestrierung von Borodins >Petite suite< durch Alexander Glasunow -- farbensprühend und effektvoll. Die asketische Strenge und monumentale Einfachheit des Klavierstücks >Im Kloster< ertrinkt allerdings ein bischen im impressionistischen Orchesterparfum -- an diesem Beispiel sieht man, daß jede Transkription eine ästhetische Neuschöpfung bedeutet, das Original nicht einfach nur kopiert.

          10. Balakireff und Glinka: Mili Balakireffs hochvirtuose Paraphrase von Glinkas Klavierstück >Die Lerche< ist ein exemplarisches Beispiel für Fin de siecle, die sogenannte >Dekadenz<. Glinkas sehr schlichtes und bescheidenes kleines Stück lädt Balakireffs Paraphrase dämonisch auf mit morbide schillernder Klangsinnigkeit und wahrlich abenteuerlicher Virtuosität -- ein absolut hinreißendes Stück! Kongenial gespielt von Jewgeny Kissin -- als Zugabe in seinem Konzert im römischen Theater von Orange (Südfrankreich, Filmmitschnitt) und zur Studioaufnahme der "Bilder einer Ausstellung" von Mussorgsky (RCA). Das Original von Glinka eingespielt hat Franz-Josef Birk (www.aton-records.de).

          11. Sergei Rachmaninow: In der Tradition von Liszt transkribierte und paraphrasierte Rachmaninow Solostücke und Lieder, so etwa >Liebesfreud< und >Liebesleid< von Fritz Kreisler, >Hopak< von Mussorgsky oder auch eigene Lieder wie etwa >Lilacs< (>Flieder<). Auch hier verbindet sich der Versuch, ein "Lied ohne Worte" zu komponieren mit der Absicht des Virtuosen, die Möglichkeiten des Instruments Klavier zu demonstrieren, eine orchestrale Klangfarbenpalette zu erzeugen. Diese Stücke wollen beeindrucken durch ihre betörende Sinnlichkeit und virtuose Dämonie. Rachmaninow, der einer der zweifellos größten Pianisten des 20. Jahrhunderts war, hat davon großartige Aufnahmen hinterlassen, sowohl im Studio als auch Rollenaufnahmen (Ampico). Letztere sind perfekt digitalisiert und abgespielt auf einem Bösendorfer-Flügel erschienen bei Telarc (2 CDs). Rachmaninows komplette Studioaufnahmen sind erhältlich in einer RCA-Box, aber auch einzeln veröffentlicht. Der Klangästhet Arcadi Volodis erstellte im Stile von Rachmaninow hochvirtuose und betörende eigene Transkriptionen wie etwa von >Utro< (>Morgen<).

          12. Virtuosentranskriptionen und -paraphrasen: Eine der berühmtesten ist die Schulz-Evler Klaviertranskription von Johann Strauß heimlicher österreichischer Nationalhymne: "An der schönen blauen Donau". Die technischen Schwierigkeiten des Stücks sind wahrlich schwindelerregend. Josef Lhevinne, einer der begabtesten Techniker aller Zeiten und ein großer Klavieraristokrat spielte das Stück gerne vor reichen Ölscheichs. Der Russe Lhevinne studierte zusammen mit solchen Größen wie Rachmaninow und Scriabin in derselben Konservatoriumsklasse und ließ gleich beide im Klavierwettbewerb hinter sich, war später in den USA zusammen mit seiner Frau Rosina als Klavierpädagoge sehr einflußreich. Van Cliburn, der als Amerikaner sensationell den ersten Moskauer Tschaikowsky-Wettberb gewann, war Schüler der Lhevinnes. Von Lhevinnes Vortrag der Transkription ist sowohl eine Rollenaufnahme (Ampico) als auch eine Studioaufnahme erhalten. Auch von Jorge Bolet gibt es einen faszinierenden Konzertmitschnitt. Sehr bekannt ist die funkensprühende Carmen-Fantasie von Vladimir Horowitz, die Arcadi Volodos nach Gehör aufschrieb und nachspielte. In der Tradition anderer Liszt-Schüler wie Ferruccio Busoni veränderte Horowitz Liszts Ungarische Rhapsodien durch spektakuläre Effekte. Solche Eingriffe nahm er auch in der 2. Ballade vor. Im Falle des 1. Mephisto-Walzers hielt er sich an Busonis Variante. Horowitz beweist bei seinen virtuosen Bearbeitungen in den meisten Fällen einen durchaus treffenden musikalischen Instinkt. Beim wortkargen späten Liszt allerdings, der den Klaviersatz auf das Wesentliche, gleichsam auf das Skelett, reduziert, wirkt Horowitzí redselige, spektakuläre Fassung in ihrer ganzen Theatralik dann doch eher anachronistisch. Andere Virtuosen wie Samuel Feinberg transkribierten Tschaikowskys 6. Symphonie. Lazar Berman spielte sie (den 3. Satz) -- zu hören in der Berman- Box von Brilliant-Classics.

          13. Godowskys Paraphrasen der Chopin-Etüden: Die beiden Zyklen der Chopin-Etüden op. 10 und op. 25 vereinigen in geradezu vollendeter Weise den technisch-pädagogischen Anspruch der Klavieretüde mit musikalischer Ambition. Wie die impressionistischen Maler die Skizze von einer bloßen Übung und Vorbereitung eines Gemäldes zum eigenständigen Kunstwerk erhoben, so macht Chopin aus dem Arbeitsmittel der Fingergeläufigkeitsetüde ein poetisches Klavierstück. Was kann man an dieser idealen Synthese eigentlich noch verbessern? Leopold Godowsky treibt Chopins Anspruch noch weiter in Richtung darauf, die extremen Möglichkeiten der Klaviertechnik und des musikalischen Ausdrucks auszuloten. So überträgt er eine Reihe von Etüden wie die berühmte >Revolutionsetüde< op. 10 Nr. 12 für die linke Hand oder arbeitet geistvolle Zitate ein wie das von Ravels >Jeux díeaux< in der Etüde op. 25 Nr. 1. Marc-Andre' Hamelin ist für diese Aufgabe der ideale Interpret -- mühelose technische Beherrschung verbindet sich hier mit poetisch-klangsinnigem Spiel, das die spätromantischen Farbenpracht der Godowsky-Paraphrasen adäquat zur Geltung bringt. Sehr lesenswert Hamelins ausführlicher Klappentext.

          14. Ravels Klavierstücke für Orchester: Debussy komponierte seine Orchesterstücke gleich in der ensprechenden instrumentierten Partitur, er dachte also von vornherein orchestral. Ravel dagegen schuf erst ein Klavierstück oder einen Klavierauszug, welches er dann nachträglich mit sehr großer Kunstfertigkeit orchestrierte. Bei Ravels meisterhafter handwerklicher Leistung merkt man Orchesterstücken wie den "Valses nobles et sentimentales", "Le Tombeau de Couperin" oder "Alborada del Gracioso" den Charakter der Transkription nicht an. Die temperamentvolle Martha Argerich spielt gerne mit wechselnden pianistischen Partnern die Transkription von >La Valse< für 2 Klaviere und entfacht dabei ein unglaubliches musikalisches Feuerwerk.

          15. Ravel und Mussorgskys >Bilder<: In diesem Falle verdankt Mussorgskys Komposition "Bilder einer Ausstellung" seine Bekanntheit und Beliebtheit wohl eindeutig der Orchestertranskription von Maurice Ravel. Einfühlsam und ungemein raffiniert erscheint sie Vladimir Ashekenazy jedoch nicht >russisch< genug. Ashkenazy, der alle Orchestertranskriptionen dieses Werkes dirigiert hat (u.a. die von Rautavaara) komponierte deshalb eine eigene Fassung -- zusammen mit dem Original für Klavier ist sie erhältlich auf einer CD (Decca). Sehr hörenswert! Wirklich alles aus Ravels Partitur heraus holt Sergui Celibidache mit seinen Münchener Philharmonikern (Konzertmitschnitt aus dem Gasteig, CD EMI).

          Ende Teil 2

          Kommentar


            #6
            Teil 3
            16. Strawinsky und Prokofieff: Strawinsky erzählte Artur Rubinstein von seiner Idee, eine Klavierversion der Petrouschka-Suite für Orchester zu erstellen. Das erste Ergebnis, das er seinem Pianistenfreund präsentierte, fiel bei diesem glatt durch! Rubinstein zu Strawinsky: So könne man das Klavier nicht behandeln! Er ging mit Strawinsky schließlich in Klausur um ihn zu lehren, wie man klaviristisch komponiert. Als Ergebnis kam eine der spektakulärsten Klavierstücke des 20. Jahrhunderts heraus mit wahrlich titanischen klaviertechnischen Anforderungen. Rubinstein hat >Petrouschka< im Konzert gespielt, es ist aber leider kein Mitschnitt erhalten. Herausragend die Interpretation von Maurizio Pollini: Klassisch klar, mit unwiderstehlicher Kraft und enormen Stehvermögen, dabei spielt er bei dem perkussiven Charakter der Kompositon wunderbar klangsinnig. Im Vergleich dazu wirkt Kissins ungemein virtuose neuere Einspielung thetorisch-beredter und weniger kühl: Das alles ist sehr plastisch-bildhaft, da tanzt die Puppe förmlich auf einer imaginären Bühne! Die Qualität von Pollinis Aufnahme ist jedoch, daß sie wie kaum eine andere den Eindruck einer geschlossenen, originären Klavierkomposition vermittelt, man also in keiner Weise mehr das Gefühl hat, es mit dem bloß geschickt arrangierten Klavierauszug eines Orchesterstücks zu tun zu haben. Das ist auch das Problem des ansonsten famosen Vortrags von Emil Gilels, der eine an die Orchesterversion sich näher anschließende erweiterte Version spielt (z.B. in Prag). Mit Alexis Weissenberg gibt es einen ganzen Petrouschka- Film, ein Portrait eigentlich der Mechanik des Klaviers (sehr günstig zu bekommen auf DVD). Weissenberg erklärt im Interview die Vorgehensweise der Produktion: Die Handbewegungen des Pianisten wurden für den sehr aufwendig produzierten Film >stumm< aufgenommen, die Musik im Playback-Verfahren dazu gespielt. Durch diesen Film wurde Karajan auf Weissenberg aufmerksam und engagierte ihn. Ein einmaliges Dokument! Petrouschka habe ich vor langen Jahren in der Tonhalle Düsseldorf mit Michel Be'roff gehört (beeindruckend!) -- vor seiner Erkrankung, die ihm das Benutzen der rechten Hand unmöglich machte. Sergei Prokofieff hat von seinen Balletten (z.B. Romeo und Julia) einzelne Szenen zu Charakterstücken für Klavier gestaltet, die besonders von russischen Pianisten (Emil Gilels, Lazar Berman, Vladimir Ashkenazy, Andrei Gawrilow u.a.) immer wieder gerne vorgetragen werden.

            17. Klassische und freischöpferische Kadenzen: Ursprünglich ließ die Kadenz dem Interpreten Raum für freie Improvisation. Auch diese Nische eigenschöpferischer Aktivität hat der musikalische Klassizismus beseitigt. Dahinter steht nicht zuletzt der Anspruch der Stilreinheit. Puristisch betrachtet bleibt eine improvisierte Kadenz immer ein Fremdkörper, denn der Musikgeschmack ändert sich im Wandel der Zeiten. So spielen die Pianisten von heute im Falle von Mozarts Klavierkonzerten in der Regel entweder Mozarts eigene, oder Beethovens auskomponierte Kadenzen. Zu den wenigen Ausnahmen zählt Benedetti Michelangeli, der in jungen Jahren überaus sinnliche Kadenzen vortrug, die ein bischen nach Rachmaninow klingen. In späteren Jahren griff auch er dann auf Beethovens klassische Fassungen zurück. Bemerkenswert Wilhelm Kempff, der für die 5 Klavierkonzerte Beethovens Kadenzen eigens komponierte -- auch das ist keine spontane Improvisation mehr, aber zumindest eine individuelle Neuschöpfung. Zu hören sind sie in seiner überaus geistvollen und jede Romantisierung vermeidenden Aufnahme der 5 Konzerte mit Ferdinand Leitner und den Berliner Philharmonikern (DGG). Sehr gelungen! Noch weiter im Sinne eines Dialogs verschiedener musikalischer Epochen, einer Auseinandersetzung von neuer und alter Musik geht Karlheinz Stockhausen. Für die Flötistin Kathinka Pasveer schuf er Kadenzen für das Flötenkonzert G-Dur KV 313 von Mozart. Seinen Sohn, den Trompeter Markus Stockhausen, beschenkte er mit Kadenzen für das Trompetenkonzert Es-Dur von Joseph Haydn. Die Konzerte dirigierte Stockhausen selbst mit den Solisten, zusammen mit dem Radio-Symphonieorchester Berlin (CD: Pilz (Arcanta) 42813 Digital).

            Beste Grüße
            Holger

            Kommentar


              #7
              Die Paraphrasen-Literatur ist wohl zu anrüchig - selbst für ein solches Forum! Ich erwarte eigentlich interessante Ergänzungen - meine Liste ist alles andere als vollständig. Die Barock-Epoche fehlt völlig, auch die Gitarren-Literatur z.B.!

              :H: Holger

              Kommentar


                #8
                Immer mit der Ruhe - der Thread ist doch noch nicht mal einen Tag alt. :Z

                Gruß,
                Markus

                Kommentar


                  #9
                  15. Ravel und Mussorgskys >Bilder<
                  >Bydlo< heisst Ochsenkarren.
                  In der Klavierfassung stampfen die riesigen Viecher sozusagen durch den Konzertsaal, zb bei Horowitz (aus den 50ern, glaub ich) klingt das richtig gewaltig und wuest.
                  Die Orchestertranskription beginnt leise, man da hat das Gefuehl man haette den Ochsen Ski-socken angezogen.
                  Ueberhaupt ist die Klavierfassung "faerbiger".

                  Kommentar


                    #10
                    Hallo Holger,

                    zunächst einmal vielen Dank für deine Ausführungen, die ich mit großem Interesse und Gewinn gelesen habe. Ich habe mir selber noch nie wirklich Gedanken über den Sinn und Wert von Transkriptionen und Paraphrasen gemacht. Insofern sind deine Gedanken dazu eine wertvolle Anregung.

                    Wenn ich dich recht verstanden habe, kann man drei Positionen unterscheiden. Zum einen die Auffassung Busonis eines musikalischen "Platonismus": Musik als Synthese einer veränderlichen, zeitbestimmten Form in die ein dauernder musikalischer Gedanke gekleidet ist. Wie Platon sagen würde, nicht die Form, sondern der Gedanke, die Idee ist wirklich. Dann die "klassische" Ansicht, wonach Form und Ideen nicht zu trennen sind und schließlich Wagners Auffassung, nach der Musik ein dauernder veränderlicher Prozeß ist. Sie alle führen zu unterschiedlichen Bewertungen von Wert oder Unwert von Transkriptionen. Welcher Auffassung man nun folgt, mag dahinstehen. Vielleicht ist das auch zeitabhängig: in Zeiten des Umbruchs und der Unbestimmtheit greifen Komponisten vielleicht eher auf das musikalische Erbe zurück und transkribieren erfolgreiche Stücke um Orientierung zu gewinnen, bevor etwas völlig Neues entsteht (ist nur so ein Gedanke, belegen könnte ich das nie).

                    "Anrüchig" oder minderwertig finde ich solche Kunst überhaupt nicht. Im Gegenteil: ich halte es für eine hohe Kunst etwas Bekanntes so umzuformen, dass etwas tatsächlich Neues daraus entsteht. Ich schätze Transkriptionen sehr - wenn sie gut gemacht sind und mir fallen dabei mehrere Aufnahmen ein (ich fürchte, eine auch nur einigermaßen repräsentative Liste wäre bodenlos):

                    1. Das Calefax Reed Quintet - ein niederländisches Ensemble mit den Instrumenten Oboe, Klarinette, Saxophon und Bassoon - hat 1999 Bach´s "Kunst der Fuge" aufgenommen. Eine wirklich sehr schöne und interessante Einspielung. Bach soll ja keine Instrumentierung vorgeschrieben haben, so dass es dieses Stück in Aufnahmen mit den verschiedensten Besetzungen gibt.



                    2. Max Reger hat die "Brandenburgischen Konzerte" für Klavier zu vier Händen bearbeitet. Meine Aufnahme stammt von dem Piano Duo Speidel/Trenker. Ich denke, es sit mehr als nur eine Fingerübung für den Komponisten und die Interpreten. Auch hier zeigt sich mal wieder, dass die abwertende Meinung Mahlers über den Wert der Kammermusik nicht stimmt: kammermusikalische Einspielungen orchestraler Werke können Gedanken und Strukturen freilegen. Mahler hatte ja aber schon immer einen Hang zu pompöser, überladener Musik.



                    3. Wo du Barock und Gitarrenmusik nennst: da muss natürlich der von mir geschätzte Kazuhito Yamashita gennant werden, der nicht nur genial und in bislang unnachahmlicher Weise die "Bilder einer Ausstellung" von Mussorgsky für die Gitarre transkribiert hat, sondern auch die "Sonaten und Partiten für Violine Solo" (sie laufen gerade im Hintergrund) und die "Suiten für Violoncello Solo".






                    Wo du die alte Kunst des Improvisierens über ein vorgegebenes Thema ansprichst: die venezolansiche Pianistin Gabriela Montero tritt mit einem ganz ähnlichen Programm wie Liszt auf. Nach einem vorbestimmten Klavierprogramm bittet sie das Publikum um ein kurzes Thema für eine Improvisation. Es gibt einige schöne Videos bei youtube:

                    Hier eine Improvisation über "Mer losse de Dom in Kölle" (kein Scherz !)

                    http://www.youtube.com/watch?v=QUqhPoA5bIY

                    Oder auch hier eine Improvisation über das "Aria" aus den Goldbergvariationen (man beachte vor allem den Schluss !):

                    http://www.youtube.com/watch?v=JUfZeag_28g

                    Beide Aufnahmen stammen von einem Konzert 2007 in Köln.

                    Und noch ein letztes (jetzt wird es lyrisch-romantisch):

                    http://www.youtube.com/watch?v=EV2w23aX67E

                    Sie hat auch mehrere CD´s herausgebracht, wie z.B. die imo hörenswerten:

                    "Bach and Beyond":



                    Hier mir Bach, Vivaldi, Händel etc.:



                    Am besten - weil mit dem abwechslungsreichsten Programm - gefällt mir jedoch die schon etwas ältere Aufnahme:



                    Es gibt noch viel zu entdecken !

                    VG, Bernd
                    Zuletzt geändert von Gast; 30.04.2009, 09:07.

                    Kommentar


                      #11
                      Zitat von Che55e Beitrag anzeigen
                      Die Orchestertranskription beginnt leise, man da hat das Gefuehl man haette den Ochsen Ski-socken angezogen.
                      Das liegt an einem Missverständnis von Ravel. Er lässt den Karren aus der Ferne immer näher anrollen und somit lauter werden. Dann verschwindet er wieder aus dem Blickfeld des Betrachters und wird somit leiser.
                      Das Original beginnt aber fortissimo. Das heißt, der Ochsenkarren ist bereits zu Beginn voll "im Bild" und verklingt dann immer mehr.

                      Gruß,
                      Markus

                      Kommentar


                        #12
                        Zitat von Che55e Beitrag anzeigen
                        >Bydlo< heisst Ochsenkarren.
                        In der Klavierfassung stampfen die riesigen Viecher sozusagen durch den Konzertsaal, zb bei Horowitz (aus den 50ern, glaub ich) klingt das richtig gewaltig und wuest.
                        Die Orchestertranskription beginnt leise, man da hat das Gefuehl man haette den Ochsen Ski-socken angezogen.
                        Ueberhaupt ist die Klavierfassung "faerbiger".
                        Ravel hat hier den Mussorgsky impressionistisch versinnlicht - genau das versucht Vladimir Ashkenazy in seiner Orchestrierung zu vermeiden. Von Horowitz gibt es zwei Aufnahmen der >Bilder<, beides Konzertmitschnitte aus der New Yorker Carnegie Hall, einen von 1947 und den anderen von 1951. Der letztere ist besser! Horowitz ist genialisch, er theatralisiert den Mussorgsky allerdings, spielt ihn wie einen exaltierten Scriabin. Entsprechend bearbeitet er den Schluß des "Tors von Kiew" - ein ziemlich bombastischer Tastendonner! Das ist nicht so ganz >stilecht<. Mussorgsky ist eher ein "Realist", der eigentlich mehr gemeinsam mit Schostakowitsch als mit Scriabin hat. Meine Lieblingsaufnahme ist das Sofia-Konzert von Svjatoslav Richter 1952 (Philips) - umwerfend! :M

                        Beste Grüße
                        Holger

                        Kommentar


                          #13
                          Zitat von Che55e Beitrag anzeigen
                          Die Orchestertranskription beginnt leise, man da hat das Gefuehl man haette den Ochsen Ski-socken angezogen.
                          Es gibt eine spätere Orchesterfassung von Leopold Stokowski, die (zumindest in dieser Hinsicht) näher bei der Klaviervorlage bleibt. - Stokowski ist überhaupt ein Großmeister von Paraphrase und Bearbeitung; seine Transkriptionen von Bachs Orgelwerken sind vielleicht manchen hier bereits bekannt. Selbst Darbietungen, die nicht explizit als Bearbeitungen ausgewiesen sind, klingen oft sehr anders als gewohnt.

                          Für mich ist das aber alles irgendwie Filmmusik, wirklich anfreunden kann ich mich damit nicht.

                          Kommentar


                            #14
                            Zitat von Markus Berzborn Beitrag anzeigen
                            Das liegt an einem Missverständnis von Ravel. Er lässt den Karren aus der Ferne immer näher anrollen und somit lauter werden. Dann verschwindet er wieder aus dem Blickfeld des Betrachters und wird somit leiser.
                            Das Original beginnt aber fortissimo. Das heißt, der Ochsenkarren ist bereits zu Beginn voll "im Bild" und verklingt dann immer mehr.
                            Da Ravel denselben Notentext vor sich hatte, nehme ich an, daß er da ganz bewußt vom Original abgewichen ist - das wirkt noch >bildhafter< - und natürlich distanzierter - als bei Mussorgsky selbst. Aus dem sehr handgreiflichen Realismus wird ein Impressionismus, ein sinnlich-luftiges, atmosphärisches Stimmungsbild.

                            Beste Grüße
                            Holger

                            Kommentar


                              #15
                              Zitat von Spalatro Beitrag anzeigen
                              Es gibt eine spätere Orchesterfassung von Leopold Stokowski, (...) seine Transkriptionen von Bachs Orgelwerken sind vielleicht manchen hier bereits bekannt. Selbst Darbietungen, die nicht explizit als Bearbeitungen ausgewiesen sind, klingen oft sehr anders als gewohnt.

                              Für mich ist das aber alles irgendwie Filmmusik, wirklich anfreunden kann ich mich damit nicht.
                              Das ist typisch Stokowsky - sehr auf den Effekt zielend! Danke für den Hinweis! :M

                              Beste Grüße
                              Holger

                              Kommentar

                              Lädt...
                              X
                              👍