Noch heute denke ich gerne zurück an jenen Konzertabend vor etlichen Jahren, als Cyprien Katsaris in der Düsseldorfer Tonhalle zu Gast war. Bei schwüler Sommerhitze trug er nicht nur Beethovens Sonate op. 26 und späte Liszt-Stücke wie >Nuages gris< vor, sondern stellte eine der monumentalen Liszt Transkription von Beethovens Symphonien -- wenn ich mich recht erinnere war es die 3. oder 6 -- ins Zentrum. Ein beeindruckendes Konzert, das vom Publikum mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Doch der anwesende Kritiker der >Rheinischen Post< wollte den Beifall nicht teilen, sondern schrieb einen entrüsteten, polemischen Verriß. Am nächsten Tag war in der Zeitung zu lesen: So ein unseriöses Stück wie diese Liszt-Transkription gehöre nicht in den Konzertsaal! Katsaris habe sich mit einem solchen Programm als Musiker ins Abseits gestellt, er sei ein mit Effekten prunkender Zirkusartist ohne künstlerischen Anspruch, den man in Zukunft nicht mehr ernst zu nehmen brauche! Darauf meldete sich ein Kritikerkollege in einem längeren Leserbrief zu Wort und nahm Katsaris mit seinem Liszt-Programm in Schutz. Man müsse diesen Liszt-Beethoven ja nicht mögen, es sei aber unbestreitbar, daß die Transkription sehr gut gemacht sei, Liszt sich sehr penibel und ehrlich an Beethovens Partitur gehalten habe.
Diese Geschichte ist bezeichnend für den Umgang mit einer Art von musikalischer Literatur, die im europäischen Musikleben einmal sehr populär und verbreitet war: die Transkriptionen und Paraphrasen. Johann Sebastian Bach etwa transkribierte Vivaldi-Konzerte für die Orgel und gab das entstandene Werk unter seinem Namen heraus, ohne es als Transkriptionen eines Vivaldi-Originals kenntlich zu machen. Woher also kommt diese brüske Ablehnung, wenn man bedenkt, daß schon zur Barockzeit das Transkribieren allgemein übliche und völlig unanstößige Praxis war? Am besten man blickt zurück auf das Revolutionsjahr 1848. In diesem Jahr endete schlagartig die Virtuosenkarriere von Franz Liszt. Liszts titanische Programme im Wiener Konzertvereinssaal in den 1830iger Jahren begannen meist mit einer großen Beethoven-Sonate wie der >Appassionata<. Darauf folgten neben Werken von Chopin sowie Eigenkompositionen von Liszt immer wieder seine Paraphrasen und Transkription -- etwa die Opern-Paraphrasen von Verdi und Bellini sowie einige der von Liszt so geliebten Schubert-Lieder. Zum Schluß durfte jemand aus dem Publikum eine Melodie vorgeben, über die Liszt dann frei improvisierte.
Mit all dem war nach 1848 endgültig Schluß! Das bürgerliche Publikum wollte offenbar nur noch klassische Werke hören. Damals bildete sich die noch heute übliche Praxis aus, wonach ein klassisches Konzert im Vortrag fertig auskomponierter Stücke besteht. Das Improvisieren, wie jede Form des Bearbeitens von Werken wird nun als mehr oder weniger unseriös empfunden, gilt im Prinzip als anrüchig. Verstehen läßt sich dieser Sinneswandel nur vor dem Hintergrund eines ästhetischen Wandels, einer sich im gebildeten Bürgertum mehr und mehr verbreitenden klassizistischen Werkästhetik. Der Grundgedanke des Klassizismus ist das Kunstwerk als ein innerlich vollendetes und deshalb unveränderliches und überzeitliches Gebilde: Man kann vom Werk nichts wegnehmen oder hinzufügen, ohne es überhaupt zu zerstören. Der Klassizismus identifiziert den geistigen Inhalt des Musikstücks mit seiner Form, d.h. er ist damit im Prinzip nicht zu trennen von dem auskomponierten und im Notentext fixierten Werk, gleichsam in ihm verkörpert -- so wie die Idee des Bildhauers schließlich in der Statue leibliche Gestalt annimmt. Das Transkribieren und Paraphrasieren erscheint vor diesem klassizistischen Hintergrund gewissermaßen als Tempelschändung dem unantastbaren Werk gegenüber, insofern die Bearbeitung das Vollendete als unvollendet, das Perfekte als mangelhaft, das in seiner Abgeschlossenheit sich selbst Genügende als ergänzungsbedürftig erscheinen läßt.
Ein Komponist wie Ferrucio Busoni, welcher an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhunderts die Tradition des Bearbeitens von klassischen Werken weiter pflegte, sah sich deshalb gezwungen, solchen Einwänden philosophisch-ästhetisch zu begegnen. Busoni war und ist berühmt für seine Bach-Transkriptionen für Klavier. In den USA redete man seine Frau sogar mit >Mrs. Bach-Busoni< an! Er war Schüler von Franz Liszt, ein genialer Pianist und avancierter Komponist, der mit Vierteltönen experimentierte und die Idee der elektronischen Musik, die damals natürlich Utopie bleiben mußte, entwarf. Als Professor in Berlin setzte er sich sehr für zeitgenössische Musik ein, u.a. für Schönberg. In seinem "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" von 1916 findet sich folgende Reflexion über die Problematik der Transkription:
">Notation< (>Scription<) bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein recht mißverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit >Transkriptionen< erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen. (...) Der Einfall wird zu einer Sonate oder zu einem Konzert (...). Von dieser ersten zu einer zweiten Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig. Doch wird im allgemeinen nur von der zweiten Aufhebens gemacht. Dabei übersieht man, daß eine Transkription die Originalfassung nicht zerstört, also ein Verlust dieser durch jene nicht entsteht. --"
Für Busoni ist das auskomponierte Werk also nicht identisch mit der geistigen Idee, welche ihm zugrundeliegt, sondern bereits eine Transkription, nicht das geistige Original, sondern bloß eine Einkleidung und Verkleidung. Deshalb ist es auch kein Problem, das bereits einmal Transkribierte weiter zu transkribieren, das Kleid also zu wechseln. Busoni opponiert hier mit seinen geistigen Vätern Wagner und Liszt gegen den ästhetischen Klassizismus. Für Wagner und Liszt ist die Form immer Ausdruck eines von ihr verschiedenen Inhalts; Form und Inhalt fallen also nicht einfach zusammen wie im Klassizismus. Der musikalische Gedanke nimmt in einer Komposition Gestalt an -- aber dieses bedeutet dem Ausdrucksprinzip folgend schon eine Veränderung des Originals, eine Transkription des abstrakten Gedankens, die entsprechend mehr oder weniger gelungen sein kann: Das Kleid paßt mehr oder weniger gut zu demjenigen, dem es angezogen wird.
(Ende Teil 1)
Diese Geschichte ist bezeichnend für den Umgang mit einer Art von musikalischer Literatur, die im europäischen Musikleben einmal sehr populär und verbreitet war: die Transkriptionen und Paraphrasen. Johann Sebastian Bach etwa transkribierte Vivaldi-Konzerte für die Orgel und gab das entstandene Werk unter seinem Namen heraus, ohne es als Transkriptionen eines Vivaldi-Originals kenntlich zu machen. Woher also kommt diese brüske Ablehnung, wenn man bedenkt, daß schon zur Barockzeit das Transkribieren allgemein übliche und völlig unanstößige Praxis war? Am besten man blickt zurück auf das Revolutionsjahr 1848. In diesem Jahr endete schlagartig die Virtuosenkarriere von Franz Liszt. Liszts titanische Programme im Wiener Konzertvereinssaal in den 1830iger Jahren begannen meist mit einer großen Beethoven-Sonate wie der >Appassionata<. Darauf folgten neben Werken von Chopin sowie Eigenkompositionen von Liszt immer wieder seine Paraphrasen und Transkription -- etwa die Opern-Paraphrasen von Verdi und Bellini sowie einige der von Liszt so geliebten Schubert-Lieder. Zum Schluß durfte jemand aus dem Publikum eine Melodie vorgeben, über die Liszt dann frei improvisierte.
Mit all dem war nach 1848 endgültig Schluß! Das bürgerliche Publikum wollte offenbar nur noch klassische Werke hören. Damals bildete sich die noch heute übliche Praxis aus, wonach ein klassisches Konzert im Vortrag fertig auskomponierter Stücke besteht. Das Improvisieren, wie jede Form des Bearbeitens von Werken wird nun als mehr oder weniger unseriös empfunden, gilt im Prinzip als anrüchig. Verstehen läßt sich dieser Sinneswandel nur vor dem Hintergrund eines ästhetischen Wandels, einer sich im gebildeten Bürgertum mehr und mehr verbreitenden klassizistischen Werkästhetik. Der Grundgedanke des Klassizismus ist das Kunstwerk als ein innerlich vollendetes und deshalb unveränderliches und überzeitliches Gebilde: Man kann vom Werk nichts wegnehmen oder hinzufügen, ohne es überhaupt zu zerstören. Der Klassizismus identifiziert den geistigen Inhalt des Musikstücks mit seiner Form, d.h. er ist damit im Prinzip nicht zu trennen von dem auskomponierten und im Notentext fixierten Werk, gleichsam in ihm verkörpert -- so wie die Idee des Bildhauers schließlich in der Statue leibliche Gestalt annimmt. Das Transkribieren und Paraphrasieren erscheint vor diesem klassizistischen Hintergrund gewissermaßen als Tempelschändung dem unantastbaren Werk gegenüber, insofern die Bearbeitung das Vollendete als unvollendet, das Perfekte als mangelhaft, das in seiner Abgeschlossenheit sich selbst Genügende als ergänzungsbedürftig erscheinen läßt.
Ein Komponist wie Ferrucio Busoni, welcher an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhunderts die Tradition des Bearbeitens von klassischen Werken weiter pflegte, sah sich deshalb gezwungen, solchen Einwänden philosophisch-ästhetisch zu begegnen. Busoni war und ist berühmt für seine Bach-Transkriptionen für Klavier. In den USA redete man seine Frau sogar mit >Mrs. Bach-Busoni< an! Er war Schüler von Franz Liszt, ein genialer Pianist und avancierter Komponist, der mit Vierteltönen experimentierte und die Idee der elektronischen Musik, die damals natürlich Utopie bleiben mußte, entwarf. Als Professor in Berlin setzte er sich sehr für zeitgenössische Musik ein, u.a. für Schönberg. In seinem "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" von 1916 findet sich folgende Reflexion über die Problematik der Transkription:
">Notation< (>Scription<) bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein recht mißverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit >Transkriptionen< erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen. (...) Der Einfall wird zu einer Sonate oder zu einem Konzert (...). Von dieser ersten zu einer zweiten Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig. Doch wird im allgemeinen nur von der zweiten Aufhebens gemacht. Dabei übersieht man, daß eine Transkription die Originalfassung nicht zerstört, also ein Verlust dieser durch jene nicht entsteht. --"
Für Busoni ist das auskomponierte Werk also nicht identisch mit der geistigen Idee, welche ihm zugrundeliegt, sondern bereits eine Transkription, nicht das geistige Original, sondern bloß eine Einkleidung und Verkleidung. Deshalb ist es auch kein Problem, das bereits einmal Transkribierte weiter zu transkribieren, das Kleid also zu wechseln. Busoni opponiert hier mit seinen geistigen Vätern Wagner und Liszt gegen den ästhetischen Klassizismus. Für Wagner und Liszt ist die Form immer Ausdruck eines von ihr verschiedenen Inhalts; Form und Inhalt fallen also nicht einfach zusammen wie im Klassizismus. Der musikalische Gedanke nimmt in einer Komposition Gestalt an -- aber dieses bedeutet dem Ausdrucksprinzip folgend schon eine Veränderung des Originals, eine Transkription des abstrakten Gedankens, die entsprechend mehr oder weniger gelungen sein kann: Das Kleid paßt mehr oder weniger gut zu demjenigen, dem es angezogen wird.
(Ende Teil 1)
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