Tach,
ich wollte über ein kleines Experiment zwischen Holger und mir berichten. Angefangen hat es mit dieser Mail von mir:
Nun, Holger war interssiert, wies mich nur darauf hin, dass er momentan an einem Interpretationsvergleich der 2. Sonate in b-moll "arbeite". Ich habe ihm dann die CD per Schneckenpost geschickt. Sie war in einem neutralen Slim-Case und enthielt ausser einer nichtssagenden Aufschrift keinerlei weitere Hinweise auf die Aufnahme oder den Interpreten. Ehrlich gesagt rechnete ich nicht damit, dass er den Pianisten erkennen würde, wußte ich doch, dass er erst eine oder zwei CDs von ihm gehört hatte und er nicht unbedingt zu seinem - Holgers - Lieblingspianisten gehörte. Trotzdem war ich nicht schlecht erstaunt, als ich wenig später folgende Antwort von ihm erhielt:
In der Tat handelte es sich um die Audio-Spur einer DVD eines Konzertes des kanadischen Pianisten Marc-André Hamelin im Juni 2007 bei den Ruhr-Festspielen in Essen. Das Konzert gibt es auf keiner CD.
Ich finde es schon bemerkenswert, dass man die Charakteristik der Spielweise eines Pianisten derart präzise erfassen und wiedergeben kann. Ich muss gestehen, ich bin himmelweit davon entfernt.
Natürlich bin ich, was die Qualität der Interpretation angeht, völlig anderer Meinung als Holger :-))
VG, Bernd
P.S.: Die Kopie der Mail erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
ich wollte über ein kleines Experiment zwischen Holger und mir berichten. Angefangen hat es mit dieser Mail von mir:
Hallo Holger,
wenn ich mich nicht sehr irre, vergleichst du momentan die Sonate No.3 in h - moll von Chopin. Nun, ich habe da noch eine Aufnahme, von der ich vermute, dass du sie nicht kennst und das bringt mich zu einer Frage: hättest du Lust auf ein kleine Experiment ? Die Bedingungen sind ganz einfach: Du bekommst von mir die Aufnahme als CD und schilderst mir dann deine Eindrücke. Vielleicht gibst du auch einen Tipp ab, um welchen Interpreten es sich handelt. Mich würde auch deine Meinung zur Klangqualität interessieren. Ich verrate nur, dass es sich um eine Live-Aufnahme handelt. Nach deiner Bewertung verrate ich dir, um welche Aufnahme und welchen Künstler es sich handelt.
Interessiert ?
wenn ich mich nicht sehr irre, vergleichst du momentan die Sonate No.3 in h - moll von Chopin. Nun, ich habe da noch eine Aufnahme, von der ich vermute, dass du sie nicht kennst und das bringt mich zu einer Frage: hättest du Lust auf ein kleine Experiment ? Die Bedingungen sind ganz einfach: Du bekommst von mir die Aufnahme als CD und schilderst mir dann deine Eindrücke. Vielleicht gibst du auch einen Tipp ab, um welchen Interpreten es sich handelt. Mich würde auch deine Meinung zur Klangqualität interessieren. Ich verrate nur, dass es sich um eine Live-Aufnahme handelt. Nach deiner Bewertung verrate ich dir, um welche Aufnahme und welchen Künstler es sich handelt.
Interessiert ?
"Hallo Bernd!
Du bist mir ja ein Schlingel! Mich alten Hasen aufs Kreuz legen wollen!
Nachdem die ersten Eindrücke etwas in mir >gearbeitet< hatten, dämmerte es
mir! Ich hatte die Studioaufnahme von Hamelin nicht in so genauer
Erinnerung, die b-moll-Sonate ausführlicher studiert als die in h-moll. Ich
kenne natürlich Hamelins Stil auch nicht so gut wie Michelangeli, Rubinstein
oder Horowitz, weil ich einfach zu wenig von ihm gehört habe. Etwas war mir
aber im Kopf geblieben. Er hat diese Virtuosenmarotte, Figuren (z.B.
Triolen) zu verschleifen (fällt z.T. unangenehm auf bei seiner Aufnahme der
Scriabin-Sonaten) oder solchen Bewegungen, die nach unten gehen,
zusätzlichen Drive zu geben. Das fiel mir gleich bei der eröffnenden 16tel
Figur zu Beginn des Allegro maestoso auf: Da wird nach unten auf das >fis<
hin >Gas< gegeben, das gibt dann so einen >Absturzeffekt<. Das macht er in
diesem Konzertmitschnitt noch extremer als in der etwas abgeklärteren
Studioaufnahme! Dann diese unverwechselbare klobige Art, wie er die
Fortissimo-Akkorde spielt Takt 3,4. Sehr bombastisch! Dann die wenig
differenziert gespielte Überleitung zum Seitenthema – das wiederum ist
eigentlich sehr schön gestaltet! Besonders die Konzertaufnahme klingt doch
sehr >gelisztet<. Musikalität hat er, nur ist das einfach kein stilechter
Chopin. Bei Chopin darf man nicht vergessen, dass ihn Bach musikalisch sehr
geprägt hat – man braucht da eine gewisse Strenge und Schlichtheit. Den
ersten Satz mit Hamelin kann man durchaus hören. Da habe ich mit Wilhelm
Kempff übrigens dasselbe Problem. Kempffs Musikalität ist immer entwaffnend,
auch er spielt mir den Satz jedoch zu sehr nach Liszt, zu rhapsodisch frei,
allerdings organischer als Hamelin und ohne virtuose Mätzchen. Beim Scherzo
stimmen die beiden Hamelin-Aufnahmen nahezu überein. Hamelin spielt einfach
kein >leggiero< (Chopins Spielanweisung!), keine spielerische Leichtigkeit,
wie es sich für ein klassisches Scherzo gehört, sondern forciert. Die
rhythmische Phrasierung in der linken Hand ist unverwechselbar Hamelin, viel
zu aufdringlich!
Dann das Largo: Die Konzertaufnahme nimmt die Figuren etwas
tänzerisch-rhythmischer, in der Studioaufnahme ist das ein bischen
zurückgenommen, ein wenig indifferenter, die Betonung fällt auf die Melodik.
Warum Hamelin hier scheitert, macht der Notentext klar! Chopin notiert
nämlich nicht Bögen über die einzelnen kürzeren Phrasen, sondern einen
großen Bogen über 8 Takte – was einer klassischen achttaktigen Periode
entspricht. Das Problem für den Interpreten ist, sich nicht gleichsam von
Motiv zu Motiv zu hangeln, sondern diesen großen Bogen hörbar zu machen! Das
bekommt Hamelin einfach nicht hin – und dadurch tritt die Musik auf der
Stelle. Kempff, der ein großer Schubert-Interpret ist, hat Sinn für
fließendes Melos. Bei ihm ist der große Bogen wunderbar ausgespielt, aber
ein bisschen auf Kosten der einzelnen Phrasen. Die Melodie >trägt< im
Unterschied zu Hamelin, wirkt aber ein bisschen zu stromlinienförmig glatt.
Das Finale bei Hamelin finde ich einfach schrecklich! Das ist Theaterdonner
und Bombast – klingt nicht wirklich nach Chopin, sondern eher nach Richard
Wagner! Ich konnte nicht anders, mir zum Schluß die Studioaufnahme von Emil
Gilels einzulegen als Maßstab. Gilels spielt einfach akribisch textgenau.
Was er da im 1. Satz in der Überleitung zum Seitenthema alles
herausarbeitet – die Zwischenstimmen sind vorbildlich deutlich und Chopins
Akzente und Bögen werden lebendig! Das Scherzo ist nicht minder technisch
stupend gespielt als bei Hamelin (Kempff kommt da deutlich an seine Grenzen,
kompensiert das aber mit einer unglaublichen Anschlagskultur!), aber eben
>leggiero<. Im Largo gelingt Gilels die Synthese: Die Einzelphrasierungen
werden bis in den letzten Winkel ausgelotet und trotzdem bleibt der große
Bogen erhalten. Interessant sind die wuchtigen Eröffnungsakkorde zu Beginn
des Largos und des Finales. Gilels spielt auf einem Bechstein-Flügel, der
natürlich weitaus bassmächtiger ist als der unten herum viel schlankere
Steinway, den Hamelin zur Verfügung hat. Gilels wuchtet die Akkorde zu
Beginn des Largo wirklich Fortissimo, wie es da steht. Zu Beginn des Finales
(Presto, ma non tanto) steht aber nicht Fortissimo, sondern nur Forte! Daran
hält sich Gilels sehr genau. Dadurch wirkt der Auftakt eben nicht
übertrieben bombastisch wie bei Hamelin, wo der Flügel im Fortissimo fast
schon brüllt in der Manier eines löwenmähnigen Virtuosen. Was Gilels zudem
alles an Strukturen in der anrollenden Bewegung herausarbeitet, das fällt
bei Hamelin völlig unter den Tisch! Sehr aufschlussreich ist auch die
Passage ab Takt 54, wo in der rechten Hand diese schnellen Laufpassagen
beginnen. Da steht Forte: Hamelin spielt diese Läufe irrwitzig schnell,
verschleift sie zu einer fast schon impressionistischen Klangfläche.
Faktisch spielt er sie nicht Forte, sondern Piano. Die Folge davon ist, dass
dann die Akkorde in der linken Hand im Forte gedonnert ungemein klobig
wirken. Gilels dagegen spielt die Läufe distinkt und eben Forte. In Takt 76
steht dann >leggiero< als Spielanweisung für die Sechzehntelläufe der
rechten Hand. Dann erst spielt auch Gilels die Läufe gleichmäßig hauchzart,
was einen wunderbaren Kontrasteffekt gibt, den sich Hamelin von vornherein
kaputt macht, weil er sie von Anfang an >leggiero< spielt. Auch Wilhelm
Kempff ist mir hier zu >wagnerianisch< - die alte deutsche Schule eben!
Furtwängler! Da wird künstlich am Schluß eine dynamisch-dramatische
Steigerung auf einen Höhepunkt hin inszeniert, was in diesem übertriebenen
Ausmaß einfach zu theatralisch wirkt! "
Du bist mir ja ein Schlingel! Mich alten Hasen aufs Kreuz legen wollen!
Nachdem die ersten Eindrücke etwas in mir >gearbeitet< hatten, dämmerte es
mir! Ich hatte die Studioaufnahme von Hamelin nicht in so genauer
Erinnerung, die b-moll-Sonate ausführlicher studiert als die in h-moll. Ich
kenne natürlich Hamelins Stil auch nicht so gut wie Michelangeli, Rubinstein
oder Horowitz, weil ich einfach zu wenig von ihm gehört habe. Etwas war mir
aber im Kopf geblieben. Er hat diese Virtuosenmarotte, Figuren (z.B.
Triolen) zu verschleifen (fällt z.T. unangenehm auf bei seiner Aufnahme der
Scriabin-Sonaten) oder solchen Bewegungen, die nach unten gehen,
zusätzlichen Drive zu geben. Das fiel mir gleich bei der eröffnenden 16tel
Figur zu Beginn des Allegro maestoso auf: Da wird nach unten auf das >fis<
hin >Gas< gegeben, das gibt dann so einen >Absturzeffekt<. Das macht er in
diesem Konzertmitschnitt noch extremer als in der etwas abgeklärteren
Studioaufnahme! Dann diese unverwechselbare klobige Art, wie er die
Fortissimo-Akkorde spielt Takt 3,4. Sehr bombastisch! Dann die wenig
differenziert gespielte Überleitung zum Seitenthema – das wiederum ist
eigentlich sehr schön gestaltet! Besonders die Konzertaufnahme klingt doch
sehr >gelisztet<. Musikalität hat er, nur ist das einfach kein stilechter
Chopin. Bei Chopin darf man nicht vergessen, dass ihn Bach musikalisch sehr
geprägt hat – man braucht da eine gewisse Strenge und Schlichtheit. Den
ersten Satz mit Hamelin kann man durchaus hören. Da habe ich mit Wilhelm
Kempff übrigens dasselbe Problem. Kempffs Musikalität ist immer entwaffnend,
auch er spielt mir den Satz jedoch zu sehr nach Liszt, zu rhapsodisch frei,
allerdings organischer als Hamelin und ohne virtuose Mätzchen. Beim Scherzo
stimmen die beiden Hamelin-Aufnahmen nahezu überein. Hamelin spielt einfach
kein >leggiero< (Chopins Spielanweisung!), keine spielerische Leichtigkeit,
wie es sich für ein klassisches Scherzo gehört, sondern forciert. Die
rhythmische Phrasierung in der linken Hand ist unverwechselbar Hamelin, viel
zu aufdringlich!
Dann das Largo: Die Konzertaufnahme nimmt die Figuren etwas
tänzerisch-rhythmischer, in der Studioaufnahme ist das ein bischen
zurückgenommen, ein wenig indifferenter, die Betonung fällt auf die Melodik.
Warum Hamelin hier scheitert, macht der Notentext klar! Chopin notiert
nämlich nicht Bögen über die einzelnen kürzeren Phrasen, sondern einen
großen Bogen über 8 Takte – was einer klassischen achttaktigen Periode
entspricht. Das Problem für den Interpreten ist, sich nicht gleichsam von
Motiv zu Motiv zu hangeln, sondern diesen großen Bogen hörbar zu machen! Das
bekommt Hamelin einfach nicht hin – und dadurch tritt die Musik auf der
Stelle. Kempff, der ein großer Schubert-Interpret ist, hat Sinn für
fließendes Melos. Bei ihm ist der große Bogen wunderbar ausgespielt, aber
ein bisschen auf Kosten der einzelnen Phrasen. Die Melodie >trägt< im
Unterschied zu Hamelin, wirkt aber ein bisschen zu stromlinienförmig glatt.
Das Finale bei Hamelin finde ich einfach schrecklich! Das ist Theaterdonner
und Bombast – klingt nicht wirklich nach Chopin, sondern eher nach Richard
Wagner! Ich konnte nicht anders, mir zum Schluß die Studioaufnahme von Emil
Gilels einzulegen als Maßstab. Gilels spielt einfach akribisch textgenau.
Was er da im 1. Satz in der Überleitung zum Seitenthema alles
herausarbeitet – die Zwischenstimmen sind vorbildlich deutlich und Chopins
Akzente und Bögen werden lebendig! Das Scherzo ist nicht minder technisch
stupend gespielt als bei Hamelin (Kempff kommt da deutlich an seine Grenzen,
kompensiert das aber mit einer unglaublichen Anschlagskultur!), aber eben
>leggiero<. Im Largo gelingt Gilels die Synthese: Die Einzelphrasierungen
werden bis in den letzten Winkel ausgelotet und trotzdem bleibt der große
Bogen erhalten. Interessant sind die wuchtigen Eröffnungsakkorde zu Beginn
des Largos und des Finales. Gilels spielt auf einem Bechstein-Flügel, der
natürlich weitaus bassmächtiger ist als der unten herum viel schlankere
Steinway, den Hamelin zur Verfügung hat. Gilels wuchtet die Akkorde zu
Beginn des Largo wirklich Fortissimo, wie es da steht. Zu Beginn des Finales
(Presto, ma non tanto) steht aber nicht Fortissimo, sondern nur Forte! Daran
hält sich Gilels sehr genau. Dadurch wirkt der Auftakt eben nicht
übertrieben bombastisch wie bei Hamelin, wo der Flügel im Fortissimo fast
schon brüllt in der Manier eines löwenmähnigen Virtuosen. Was Gilels zudem
alles an Strukturen in der anrollenden Bewegung herausarbeitet, das fällt
bei Hamelin völlig unter den Tisch! Sehr aufschlussreich ist auch die
Passage ab Takt 54, wo in der rechten Hand diese schnellen Laufpassagen
beginnen. Da steht Forte: Hamelin spielt diese Läufe irrwitzig schnell,
verschleift sie zu einer fast schon impressionistischen Klangfläche.
Faktisch spielt er sie nicht Forte, sondern Piano. Die Folge davon ist, dass
dann die Akkorde in der linken Hand im Forte gedonnert ungemein klobig
wirken. Gilels dagegen spielt die Läufe distinkt und eben Forte. In Takt 76
steht dann >leggiero< als Spielanweisung für die Sechzehntelläufe der
rechten Hand. Dann erst spielt auch Gilels die Läufe gleichmäßig hauchzart,
was einen wunderbaren Kontrasteffekt gibt, den sich Hamelin von vornherein
kaputt macht, weil er sie von Anfang an >leggiero< spielt. Auch Wilhelm
Kempff ist mir hier zu >wagnerianisch< - die alte deutsche Schule eben!
Furtwängler! Da wird künstlich am Schluß eine dynamisch-dramatische
Steigerung auf einen Höhepunkt hin inszeniert, was in diesem übertriebenen
Ausmaß einfach zu theatralisch wirkt! "
Ich finde es schon bemerkenswert, dass man die Charakteristik der Spielweise eines Pianisten derart präzise erfassen und wiedergeben kann. Ich muss gestehen, ich bin himmelweit davon entfernt.
Natürlich bin ich, was die Qualität der Interpretation angeht, völlig anderer Meinung als Holger :-))
VG, Bernd
P.S.: Die Kopie der Mail erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
Kommentar