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    Blindtest mal anders

    Tach,

    ich wollte über ein kleines Experiment zwischen Holger und mir berichten. Angefangen hat es mit dieser Mail von mir:
    Hallo Holger,

    wenn ich mich nicht sehr irre, vergleichst du momentan die Sonate No.3 in h - moll von Chopin. Nun, ich habe da noch eine Aufnahme, von der ich vermute, dass du sie nicht kennst und das bringt mich zu einer Frage: hättest du Lust auf ein kleine Experiment ? Die Bedingungen sind ganz einfach: Du bekommst von mir die Aufnahme als CD und schilderst mir dann deine Eindrücke. Vielleicht gibst du auch einen Tipp ab, um welchen Interpreten es sich handelt. Mich würde auch deine Meinung zur Klangqualität interessieren. Ich verrate nur, dass es sich um eine Live-Aufnahme handelt. Nach deiner Bewertung verrate ich dir, um welche Aufnahme und welchen Künstler es sich handelt.

    Interessier
    t ?
    Nun, Holger war interssiert, wies mich nur darauf hin, dass er momentan an einem Interpretationsvergleich der 2. Sonate in b-moll "arbeite". Ich habe ihm dann die CD per Schneckenpost geschickt. Sie war in einem neutralen Slim-Case und enthielt ausser einer nichtssagenden Aufschrift keinerlei weitere Hinweise auf die Aufnahme oder den Interpreten. Ehrlich gesagt rechnete ich nicht damit, dass er den Pianisten erkennen würde, wußte ich doch, dass er erst eine oder zwei CDs von ihm gehört hatte und er nicht unbedingt zu seinem - Holgers - Lieblingspianisten gehörte. Trotzdem war ich nicht schlecht erstaunt, als ich wenig später folgende Antwort von ihm erhielt:
    "Hallo Bernd!

    Du bist mir ja ein Schlingel! Mich alten Hasen aufs Kreuz legen wollen!
    Nachdem die ersten Eindrücke etwas in mir >gearbeitet< hatten, dämmerte es
    mir! Ich hatte die Studioaufnahme von Hamelin nicht in so genauer
    Erinnerung, die b-moll-Sonate ausführlicher studiert als die in h-moll. Ich
    kenne natürlich Hamelins Stil auch nicht so gut wie Michelangeli, Rubinstein
    oder Horowitz, weil ich einfach zu wenig von ihm gehört habe. Etwas war mir
    aber im Kopf geblieben. Er hat diese Virtuosenmarotte, Figuren (z.B.
    Triolen) zu verschleifen (fällt z.T. unangenehm auf bei seiner Aufnahme der
    Scriabin-Sonaten) oder solchen Bewegungen, die nach unten gehen,
    zusätzlichen Drive zu geben. Das fiel mir gleich bei der eröffnenden 16tel
    Figur zu Beginn des Allegro maestoso auf: Da wird nach unten auf das >fis<
    hin >Gas< gegeben, das gibt dann so einen >Absturzeffekt<. Das macht er in
    diesem Konzertmitschnitt noch extremer als in der etwas abgeklärteren
    Studioaufnahme! Dann diese unverwechselbare klobige Art, wie er die
    Fortissimo-Akkorde spielt Takt 3,4. Sehr bombastisch! Dann die wenig
    differenziert gespielte Überleitung zum Seitenthema – das wiederum ist
    eigentlich sehr schön gestaltet! Besonders die Konzertaufnahme klingt doch
    sehr >gelisztet<. Musikalität hat er, nur ist das einfach kein stilechter
    Chopin. Bei Chopin darf man nicht vergessen, dass ihn Bach musikalisch sehr
    geprägt hat – man braucht da eine gewisse Strenge und Schlichtheit. Den
    ersten Satz mit Hamelin kann man durchaus hören. Da habe ich mit Wilhelm
    Kempff übrigens dasselbe Problem. Kempffs Musikalität ist immer entwaffnend,
    auch er spielt mir den Satz jedoch zu sehr nach Liszt, zu rhapsodisch frei,
    allerdings organischer als Hamelin und ohne virtuose Mätzchen. Beim Scherzo
    stimmen die beiden Hamelin-Aufnahmen nahezu überein. Hamelin spielt einfach
    kein >leggiero< (Chopins Spielanweisung!), keine spielerische Leichtigkeit,
    wie es sich für ein klassisches Scherzo gehört, sondern forciert. Die
    rhythmische Phrasierung in der linken Hand ist unverwechselbar Hamelin, viel
    zu aufdringlich!

    Dann das Largo: Die Konzertaufnahme nimmt die Figuren etwas
    tänzerisch-rhythmischer, in der Studioaufnahme ist das ein bischen
    zurückgenommen, ein wenig indifferenter, die Betonung fällt auf die Melodik.
    Warum Hamelin hier scheitert, macht der Notentext klar! Chopin notiert
    nämlich nicht Bögen über die einzelnen kürzeren Phrasen, sondern einen
    großen Bogen über 8 Takte – was einer klassischen achttaktigen Periode
    entspricht. Das Problem für den Interpreten ist, sich nicht gleichsam von
    Motiv zu Motiv zu hangeln, sondern diesen großen Bogen hörbar zu machen! Das
    bekommt Hamelin einfach nicht hin – und dadurch tritt die Musik auf der
    Stelle. Kempff, der ein großer Schubert-Interpret ist, hat Sinn für
    fließendes Melos. Bei ihm ist der große Bogen wunderbar ausgespielt, aber
    ein bisschen auf Kosten der einzelnen Phrasen. Die Melodie >trägt< im
    Unterschied zu Hamelin, wirkt aber ein bisschen zu stromlinienförmig glatt.

    Das Finale bei Hamelin finde ich einfach schrecklich! Das ist Theaterdonner
    und Bombast – klingt nicht wirklich nach Chopin, sondern eher nach Richard
    Wagner! Ich konnte nicht anders, mir zum Schluß die Studioaufnahme von Emil
    Gilels einzulegen als Maßstab. Gilels spielt einfach akribisch textgenau.
    Was er da im 1. Satz in der Überleitung zum Seitenthema alles
    herausarbeitet – die Zwischenstimmen sind vorbildlich deutlich und Chopins
    Akzente und Bögen werden lebendig! Das Scherzo ist nicht minder technisch
    stupend gespielt als bei Hamelin (Kempff kommt da deutlich an seine Grenzen,
    kompensiert das aber mit einer unglaublichen Anschlagskultur!), aber eben
    >leggiero<. Im Largo gelingt Gilels die Synthese: Die Einzelphrasierungen
    werden bis in den letzten Winkel ausgelotet und trotzdem bleibt der große
    Bogen erhalten. Interessant sind die wuchtigen Eröffnungsakkorde zu Beginn
    des Largos und des Finales. Gilels spielt auf einem Bechstein-Flügel, der
    natürlich weitaus bassmächtiger ist als der unten herum viel schlankere
    Steinway, den Hamelin zur Verfügung hat. Gilels wuchtet die Akkorde zu
    Beginn des Largo wirklich Fortissimo, wie es da steht. Zu Beginn des Finales
    (Presto, ma non tanto) steht aber nicht Fortissimo, sondern nur Forte! Daran
    hält sich Gilels sehr genau. Dadurch wirkt der Auftakt eben nicht
    übertrieben bombastisch wie bei Hamelin, wo der Flügel im Fortissimo fast
    schon brüllt in der Manier eines löwenmähnigen Virtuosen. Was Gilels zudem
    alles an Strukturen in der anrollenden Bewegung herausarbeitet, das fällt
    bei Hamelin völlig unter den Tisch! Sehr aufschlussreich ist auch die
    Passage ab Takt 54, wo in der rechten Hand diese schnellen Laufpassagen
    beginnen. Da steht Forte: Hamelin spielt diese Läufe irrwitzig schnell,
    verschleift sie zu einer fast schon impressionistischen Klangfläche.
    Faktisch spielt er sie nicht Forte, sondern Piano. Die Folge davon ist, dass
    dann die Akkorde in der linken Hand im Forte gedonnert ungemein klobig
    wirken. Gilels dagegen spielt die Läufe distinkt und eben Forte. In Takt 76
    steht dann >leggiero< als Spielanweisung für die Sechzehntelläufe der
    rechten Hand. Dann erst spielt auch Gilels die Läufe gleichmäßig hauchzart,
    was einen wunderbaren Kontrasteffekt gibt, den sich Hamelin von vornherein
    kaputt macht, weil er sie von Anfang an >leggiero< spielt. Auch Wilhelm
    Kempff ist mir hier zu >wagnerianisch< - die alte deutsche Schule eben!
    Furtwängler! Da wird künstlich am Schluß eine dynamisch-dramatische
    Steigerung auf einen Höhepunkt hin inszeniert, was in diesem übertriebenen
    Ausmaß einfach zu theatralisch wirkt!
    "
    In der Tat handelte es sich um die Audio-Spur einer DVD eines Konzertes des kanadischen Pianisten Marc-André Hamelin im Juni 2007 bei den Ruhr-Festspielen in Essen. Das Konzert gibt es auf keiner CD.

    Ich finde es schon bemerkenswert, dass man die Charakteristik der Spielweise eines Pianisten derart präzise erfassen und wiedergeben kann. Ich muss gestehen, ich bin himmelweit davon entfernt.

    Natürlich bin ich, was die Qualität der Interpretation angeht, völlig anderer Meinung als Holger :-))

    VG, Bernd

    P.S.: Die Kopie der Mail erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verfassers

    #2
    Hallo

    Ich finde es immer toll, wenn jemand sich so gut in Musik einhört.
    :T

    Ich schaffe das eher bei Bluesern (Pianisten, Gitarristen), Rockern, manchen Jazzern und Arrangeuren.

    LG

    Babak
    Grüße
    :S

    Babak

    ------------------------------
    "Alles was wir hören ist eine Meinung, nicht ein Faktum.

    Alles was wir sehen ist eine Perspektive, nicht die Wahrheit!"


    Marcus Aurelius

    Kommentar


      #3
      Zitat von Babak Beitrag anzeigen
      Hallo
      Ich finde es immer toll, wenn jemand sich so gut in Musik einhört.
      Babak
      Ich schaffe das eher bei Bluesern (Pianisten, Gitarristen), Rockern, manchen Jazzern und Arrangeuren.
      ... und seine Hörerfahrung so gut in Worte zu fassen weiß ... und die verschiedenen Interpreten und Aufnahmen erkennen kann und sie für sich zu bewerten versteht.
      Mit Jazz komme ich in dieser Hinsicht besser klar.

      In der klassischen Musik bin ich weniger gut in der Lage, innerhalb einzelner Interpretationen erkennen zu können, ob sich da ein blendend aufgelegter Vertreter populistischer vergoldung breitmachen will, oder ob es sich um eine aussergewöhnlich gute Aufnahme handelt. Da muss ich wohl noch üben ... im Jazz kanns schonmal passieren, das mit audiophilistischer Zuspitzung versichert werden will, was musikalisch aber eigentlich auch durchs Rost fallen dürfte.

      Vielleicht entdecke ich bald in alten Monoaufnahmen und der passenden Nadel in der Rille den Ton, der mich verführen kann ...
      Last.fm Was ich zuletzt gehört habe ...

      Kommentar


        #4
        Zitat von zatopek Beitrag anzeigen
        Ich finde es schon bemerkenswert, dass man die Charakteristik der Spielweise eines Pianisten derart präzise erfassen und wiedergeben kann. Ich muss gestehen, ich bin himmelweit davon entfernt.

        Natürlich bin ich, was die Qualität der Interpretation angeht, völlig anderer Meinung als Holger :-))
        Hallo Bernd,

        das hatte ich Dir schon geschrieben: das ist Sache der Übung und jahrzehntelangen Erfahrung, wenn man mit dem Instrument Klavier und Klaviermusik aufgewachsen ist! Das ist ähnlich so, wenn ein Experte ein Gemälde von Rembrandt oder Raffael am Stil erkennt. Auch das ist Sache der Erfahrung!

        Der Interpretationsvergleich an sich ist natürlich auch Erfahrungssache und am besten macht man ihn gemeinsam! Ich ziehe Gilels, Arrau, Pollini oder Ashkenazy dem Hamelin eindeutig vor. Das ist Chopin aus der Sicht eines - freilich ungemein musikalischen (!) - Virtuosen. Den ersten Satz kann ich noch gut hören, das Scherzo ist mir zu etüdenhaft, der langsame Satz geht, den letzten finde ich einfach schrecklich! Insgesamt finde ich, daß ihm die dramatische b-moll Sonate besser liegt als die eher >klassische< in h-moll!

        Beste Grüße
        Holger

        Kommentar


          #5
          Toll, Holger, wie du dich in die Musik vertiefen kannst.:M

          Gruß
          Franz

          Kommentar


            #6
            Hallo Holger,

            Zitat von Dr. Holger Kaletha Beitrag anzeigen
            das hatte ich Dir schon geschrieben: das ist Sache der Übung und jahrzehntelangen Erfahrung, wenn man mit dem Instrument Klavier und Klaviermusik aufgewachsen ist! Das ist ähnlich so, wenn ein Experte ein Gemälde von Rembrandt oder Raffael am Stil erkennt. Auch das ist Sache der Erfahrung!
            Ich glaube einfach nicht, dass das nur eine Sache der Übung ist. Ich denke vielmehr, dazu gehört schon ein bestimmtes "Sensorium", eine Fähigkeit, aus Tönen analytisch mehr extrahieren zu können, als ich das z.B. kann.

            Ich frage mich dann aber auch immer: kann man dabei eigentlich Musik einfach nur geniessen ? Wenn ich Musik höre, merke ich auch, ob mir etwas gefällt oder nicht. Aber es interessiert mich dann nicht mehr so wahnsinnig, warum das so ist. Gefällt es mir, höre ich weiter und geniesse es; gefällt es nicht, lege ich etwas anderes auf. Mir fehlt dieser unbedingte Drang zur Analyse. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass mir der musikalische und musiktheoretische Hintergrund fehlt. Nun gut, damit muss ich dann wohl leben... Andererseits interessiert es mich ja schon, ob ein Musikstück nicht auch anders eingespielt noch "besser" klingen kann.

            VG, Bernd

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              #7
              Zitat von zatopek Beitrag anzeigen
              Ich glaube einfach nicht, dass das nur eine Sache der Übung ist. Ich denke vielmehr, dazu gehört schon ein bestimmtes "Sensorium", eine Fähigkeit, aus Tönen analytisch mehr extrahieren zu können, als ich das z.B. kann.

              Ich frage mich dann aber auch immer: kann man dabei eigentlich Musik einfach nur geniessen ? Wenn ich Musik höre, merke ich auch, ob mir etwas gefällt oder nicht. Aber es interessiert mich dann nicht mehr so wahnsinnig, warum das so ist. Gefällt es mir, höre ich weiter und geniesse es; gefällt es nicht, lege ich etwas anderes auf. Mir fehlt dieser unbedingte Drang zur Analyse. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass mir der musikalische und musiktheoretische Hintergrund fehlt. Nun gut, damit muss ich dann wohl leben... Andererseits interessiert es mich ja schon, ob ein Musikstück nicht auch anders eingespielt noch "besser" klingen kann.
              Hallo Bernd,

              die Analyse ist immer eine Vertiefung. Wenn ich >normal< Musik höre, analysiere ich natürlich auch nicht. Wenn ich dann aber einen bewußten Vergleich mache, dann möchte ich schließlich der Sache auf den Grund gehen, warum mir bestimmte Dinge im einen Fall gefallen und im anderen nicht. Und dazu braucht man die Analyse. Der andere Punkt ist, wenn man ein Musikstück selber spielt. Dann schaut man sich zwangsläufig den Notentext an und analysiert! Dazu gehört auch, daß man sich über die Idee eines solchen Musikstücks Gedanken macht, die ästhetische Seite. Die h-moll Sonate von Chopin ist ein Beispiel für romantischen Klassizismus. (Anderes bedeutendes Beispiel für einen solchen Klassizismus: Die Sonaten von Johannes Brahms!) Die Idee der klassischen Sonate ist die Herstellung einer harmonischen Ausgewogenheit, Gegensätze werden in ein Gleichgewicht der komplementären Ergänzung gebracht. Der Schlußsatz ist z.B. als ein "lieto fine", ein Kehrausfinale, konzipiert, der die dramatischen Spannungen des 1. Satzes aufhebt, das Schwere zum Schluß ins Leichte wendet. Das ist mein Grundeinwand gegen Hamelins Interpretation: das ist völlig unklassizistisch und deshalb einfach nicht >stilecht<! Der Schlußsatz korrespondiert mit dem schwergewichtigen langsamen Satz vorher mit seiner konzertanten Brillianz: Gegensatz schwer-leicht. Man darf ihn deshalb nicht bombastisch, d.h. dramatisch schwer, spielen. Der Kopfsatz mit seiner italienischen Kantabilität (der Einfluß von Bellinis Opern bei Chopin!) hat zwar Gegensätze, aber keine dramatischen. Auch hier gibt es eine Korrespondenz, die einen harmonischen Ausgleich schafft: Das Melodisch-Innige des Kopfsatzes korrespondiert mit der etwas weltlicheren Leichtigkeit des Scherzo. Deshalb darf man da nicht forcieren, was die Dinge aus der Balance bringt. Innerhalb des Scherzo gibt es auch wieder eine Korrespondenz leicht-schwer: Scherzo und Trio. Zum Klassizismus gehört weiter formale Strenge, Schlichtheit und die Ausgefeiltheit im Detail. Auch diese Dimension verschwindet in Hamelins sehr rhapsodisch freiem, >lisztendem< Vortrag! Diese meine Einwände sind stilistisch-ästhetisch, und ich kann sie dann durch eine sorgfältige Analyse untermauern, z.B., daß Hamelin nicht beachtet, daß bei Chopin die wuchtigen Akkorde zu Beginn des Largo Fortissimo und zu Beginn des Finale nur Forte notiert sind - da sieht man sehr schön die klassizistische Abnlage in dem Gegensatz schwer-leicht.

              Beste Grüße
              Holger
              Zuletzt geändert von Gast; 16.05.2009, 10:43.

              Kommentar


                #8
                Nun müsste man nur wissen, warum Hamelin so eine Interpretation spielt. Sehr oft wenn ich mit dem Interpreter rede, merke ich, dass die "ungewöhnliche" Interpretationen auf Grund neuer Erkenntnissen entstehen. Sehr interessant war eine live-Interpretation von der vierten von Mendelssohn mit Hogwood. Da hat er für eine viertel Stunde die neuen Erkenntnissen erzählt.
                Ich sage aber nicht, dass alle "komische" oder nicht in einem "gewöhnlichen" Schema gebrachten Interpretationen einen wissenschaftlichen Hintergrund haben. Da kann man viel lernen, wenn man zum Interpret mit den eigenen Einwänden geht.

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                  #9
                  Zitat von Titian Beitrag anzeigen
                  Nun müsste man nur wissen, warum Hamelin so eine Interpretation spielt. Sehr oft wenn ich mit dem Interpreter rede, merke ich, dass die "ungewöhnliche" Interpretationen auf Grund neuer Erkenntnissen entstehen.
                  Hallo Titian,

                  Chopins Sonaten wurden von der Musikwissenschaft lange äußerst stiefmütterlich behandelt, sind in der Regel sehr abgewertet worden, als formal mangelhaft usw., was Joachim Kaiser dazu bewegte, sie in einer Streitschrift zu verteidigen ("Chopin und die Sonate"). Neue Erkenntnisse sind besonders im Falle der h-moll Sonate kaum zu erwarten, sie ist im Vergleich mit der umstürzlerisch unkonventionellen in b-moll (der mit dem Trauermarsch) formal doch sehr normgerecht-konventionell. Und Hamelins Zugang zu dieser Musik ist eigentlich nicht intellektuell, sondern eher intuitiv.

                  Beste Grüße
                  Holger

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                    #10
                    Also ich muß schon sagen, Hut ab vor Holger! :T

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                      #11
                      Hallo Holger,

                      was du sagst läuft doch aber darauf hinaus, dass eine Komposition "richtig" nur dann gespielt wird, wenn die Interpretation im Einklang mit den "neusten" oder den etabliertesten musikwissenschaftlichen Erkenntissen steht. Der Interpret als Handlanger der Musikwissenschaft, um es einmal überspitzt zu formulieren.

                      Nun, ich denke mit dieser These wirst du bei den meisten Musikern auf Ablehnung stoßen. Sie empfinden sich immer noch als Künstler - denke ich zumindest - und werden wohl auf ihrem Recht als Künstler beharren, eine Komposition auch anders zu interpretieren, als die Muskwissenschaft das vorschreiben will. Hamelin würde dir vielleicht recht geben aber antworten: "Ach wissen Sie, Herr Dr. Kaletha, das interssiert mich eigentlich überhaupt nicht ! Ich als Künstler darf die Sonate so spielen, wie ich es für richtig halte und letztlich geht es nur darum, ob es auch den Zuhörern gefällt." Und ich meine, er hat damit vollkommen recht. Sonst können wir uns - wenn wir eine Überlegungen auf die Spitze treiben - sämtliche Konzerte sparen. Wir erküren eine Interpretation zu der musikwissenschaftlich zutreffenden und die hören wir uns an. Alles andere ist eh "falsch" und eine neue Einspielung ist nur dann gerechtfertigt, wenn es neue wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die diese Aufführungsart rechtfertigt !


                      Ich weiss nicht, aber das wäre irgendwie nicht meine Art, Musik zu hören. Ich mag es, wenn man mal etwas völlig neues ausprobiert, auch wenn das überhaupt nicht im Einklang mit der herrschenden Meinung oder dem überwiegenden Geschmack steht. Es kommt doch nur darauf an, ob es gefällt ? Ich meine, gibt es für dich keine Interpretation, die nun wirklich jenseits jeder musikwissenschaftlichen Begründung steht und dir trotzdem gefällt ? Könnte es nicht sein, dass z.B. Hamelin in seiner Interpretation einen musikalischen Ausdruck versucht, den man vielleicht nur ohne den musikwissenschaftlichen Hintergrung verstehen kann ?

                      Bitte, verstehe mich richtig: es geht mir hier nicht darum, auf Biegen und Brechen seine Aufnahme verteidigen zu wollen. Vielleicht empfinden sie ja die meisten Klassikhörer tatsächlich als schlecht (obwohl ich auf Grund der Reaktionen der Konzertbesucher den Eindruck hatte, dass zumindest ihnen die Aufführung gefallen hat). es geht mir vielmehr um das grundsätzliche Verständnis, das wir ja auch schon bei unserer Diskussion um den Wert der "Gould"berg - Variationen hatten. Wie weit darf ein Künstler sich von der Komposition entfernen und sich durch eine eigene Sichtweise aneignen ? Da fällt mir auch wieder dein Statement zu den Transkriptionen und Paraphrasen ein, insbesondere Busoni mit seiner Auffassung, dass jede Aufführung im Grunde eine Transkripition ist. Darf nicht ein Künstler in diesem Sinne seine eigene Transkription erstellen oder kommt er immer nur mit einem gebundenen Mandat nur das spielen zu dürfen, was der Komponist nun wirklich gemeint hat, auf die Bühne ?

                      Viele Grüße,

                      Bernd

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                        #12
                        Zitat von zatopek Beitrag anzeigen
                        Hallo Holger,

                        was du sagst läuft doch aber darauf hinaus, dass eine Komposition "richtig" nur dann gespielt wird, wenn die Interpretation im Einklang mit den "neusten" oder den etabliertesten musikwissenschaftlichen Erkenntissen steht. Der Interpret als Handlanger der Musikwissenschaft, um es einmal überspitzt zu formulieren.

                        Nun, ich denke mit dieser These wirst du bei den meisten Musikern auf Ablehnung stoßen. Sie empfinden sich immer noch als Künstler - denke ich zumindest - und werden wohl auf ihrem Recht als Künstler beharren, eine Komposition auch anders zu interpretieren, als die Muskwissenschaft das vorschreiben will. Hamelin würde dir vielleicht recht geben aber antworten: "Ach wissen Sie, Herr Dr. Kaletha, das interssiert mich eigentlich überhaupt nicht ! Ich als Künstler darf die Sonate so spielen, wie ich es für richtig halte und letztlich geht es nur darum, ob es auch den Zuhörern gefällt."
                        Hallo Bernd,

                        da hast Du einiges falsch verstanden! Joachim Kaiser weist zu Beginn seines lesenswerten Plädoyers für Chopin auf die Diskrepanz hin zwischen der Beliebtheit der Sonaten Chopins bei Pianisten und dem Publikum gleichermaßen und ihrer >Destruktion< durch die Musikwissenschaftler. Um Musikwissenschaft geht es mir hier im übrigen gar nicht! (Die Bemerkung über die >neuesten musikwissenschaftlichen Ergebnisse< stammte übrigens von Titian!) Zum guten Geschmack gehört ein ästhetisches Urteil - was etwa klassische Ausgewogenheit erfaßt, ein ganz bestimmtes, historisch geprägtes Schönheitsideal, dazu braucht man keine wissenschaftliche Erkenntnis, wohl aber Bildung, daß man weiß, was >Klassizismus< z.B. bedeutet. Die Musikwissenschaft liefert Analysen, und meistens kranken sie daran, daß sie fürchterlich >positivistisch< sind, d.h. solche ästhetischen und hermeneutischen Sinn-Fragen nicht einbeziehen. Analysen sind nur gut, wenn sie ästhetisch fundiert sind - man kann nämlich so gut wie alles oder nichts analytisch rechtfertigen, wenn man nicht den Geist eines solchen Kunstwerks zu ergründen sucht! Beispiel: Das ansonsten sehr gute Buch über Beethovens Klaviersonaten von Uhde, da sieht man oft den musikalischen Wald vor lauter analytischen Bäumen nicht mehr! Oder: Die Musikwissenschaft von heute glaubt, die Satzfolge in der 6. Symphonie Mahlers korrigieren zu müssen! Das kann man alles historisch-positivistisch rechtfertigen, hermeneutisch ist das jedoch einfach Schwachsinn, das ist jedenfalls meine Meinung! Oder auch: Es schreibt jemand, Scriabins 5. Klaviersonate sei gar keine Sonate, sondern so etwas wie ein Rondo. Was sonatenhaft ist an dieser revolutionären Sonate versteht man nur, wenn man einholt, was Scriabin selbst unter >Extase< versteht, d.h. ohne sich über den musikalischen Sinn Gedanken zu machen, wird man von dieser originellen Form nichts begreifen. Im Falle von Chopin ist es bemerkenswert, daß derselbe Komponist zunächst eine unkonventionelle Sonate schreibt (selbst ein Robert Schumann konnte den Sinn dieser Form nicht nachvollziehen, schrieb, Chopin habe da vier seiner >tollsten Kinder< zusammengebracht!) und dann eine betont konventionelle. D.h. das hat er sehr bewußt getan. Komponisten sind beim Komponieren ja nicht einfach geistig >blind<, orientieren sich an ästhetischen Prinzipien und erfüllen damit zugleich sehr spezifische Erwartungshaltungen des auch wieder sehr gebildeten Publikums - jedenfalls gilt das für die Zeit der Romantik, in der Chopin lebte. Darüber kann sich ein gewissenhafter Interpret von heute nicht einfach hinwegsetzen! Außerdem wird in Meisterklassen an Konservatorien und bei diversen großen Pianisten genau diese Problematik intensiv mit den Schülern besprochen. Wenn Hamelin bei Claudio Arrau z.B. gesessen hätte, dann wäre er mit dieser Auffassung bestimmt nicht durchgekommen, da hätte der Meister ihn ganz schön zurechtgewiesen!

                        Ich bin ja nun mit einem Konzertpianisten befreundet und erfahre deshalb viele solche Dinge. Und deshalb kann ich sagen: Die Musiker selbst sind viel unduldsamer als wir Hörer, was Interpretationen angeht, die sie für inakzeptabel halten. Mein Freund erzählte mir neulich am Telefon, daß er sich auf meine Empfehlung hin die Brilliant-Box mit Aufnahmen von Vladimir Sofronitzky gekauft hätte. Vieles fand er gut - doch die B-Dur Sonate von Schubert (D 960) so schrecklich ("das ist kein Schubert"), daß er die spezielle CD gleich in den Mülleimer geschmissen hat! Da mußte ich natürlich lachen! Ich fand die Aufnahme übrigens toll! :M

                        Beste Grüße
                        Holger
                        Zuletzt geändert von Gast; 16.05.2009, 23:35.

                        Kommentar


                          #13
                          Gerade habe ich geschaut: Murray Perahia hat Aufnahmen der Meisterklasse von Alfred Cortot herausgebracht, dort spielt und bespricht Cortot Werke von Bach, Mozart, Beethoven, Schumann und natürlich Chopin. Unterrichtsgegenstand ist u.a. auch die 2. und 3. Sonate! Da werde ich bei Gelegenheit noch einmal reinhören! Die Box ist sehr empfehlenswert, Cortot war eine große Persönlichkeit, ein >philosophischer< Kopf und eine Legende als Chopin-Interpret. Er spricht auf Französisch. Was er sagt, ist im Begleitheft abgedruckt parallel mit englischer Übersetzung. Wirklich erhellend und äußerst lehrreich!

                          Einen schönen Sonntag wünscht
                          Holger

                          Kommentar


                            #14
                            Meister Cortot korrigiert seine Schüler nach dem Vorspielen der 3. Sonate:

                            "Le Scherzo. Beaucoup trop vite, beaucoup trop vite, cest un jeu..." ("Das Scherzo. Viel zu schnell, viel zu schnell, das ist ein Spiel...")

                            Zum Finale: "Vouz le passionnez un peu. Il ne faut pas le passionez. Ca doit rester absolument rigide..." ("Sie passionieren (dramatisieren) ein bischen. Man darf das nicht passionieren. Man muß absolut rigide (streng) bleiben...")

                            Warum hat Hamelin nur nicht diese Meisterklasse besucht....

                            Beste Grüße
                            Holger

                            Kommentar


                              #15
                              Hallo Holger,

                              Zitat von Dr. Holger Kaletha Beitrag anzeigen
                              Warum hat Hamelin nur nicht diese Meisterklasse besucht....

                              Nun, zum Glück hat Hamelin die Meisterklasse Cortots nicht besucht, sonst würde er ja jetzt so spielen wie Cortot und wir wären um eine Interpretationsweise ärmer !

                              Du machst bei deiner Argumentation natürlich einige Voraussetzungen, die ich für nicht selbstverständlich sondern zumindest diskussionswürdig halte. So setzt du voraus, es gebe etwas wie einen "Geist des Kunstwerkes" der objektiv erkennbar sei und weiterhin, es gebe nur eine Art, diesen Geist - ich persönlich würde lieber von einem musikalischen Gedanken sprechen, aber das ist Wortklauberei - auszudrücken. Beide Voraussetzungen kann man guten Gewissens bestreiten.

                              Selbst wenn diese Voraussetzungen zutreffen sollten gibt es das weitere Problem, an Hand welcher Kriterien man überprüfen kann, ob 1. das, was man den Geist des Kunstwerkes bezeichnet, diesem auch tatsächlich entspricht und 2. ob die fragliche Interpretation tatsächlich diesem Geist entspricht oder ob sie davon abweicht.

                              Zitat von Dr. Holger Kaletha Beitrag anzeigen
                              Zum guten Geschmack gehört ein ästhetisches Urteil - was etwa klassische Ausgewogenheit erfaßt, ein ganz bestimmtes, historisch geprägtes Schönheitsideal, dazu braucht man keine wissenschaftliche Erkenntnis, wohl aber Bildung, daß man weiß, was >Klassizismus< z.B. bedeutet.
                              Auch diese Aussage halte ich für ziemlich problematisch. Sie läuft darauf hinaus, dass es ein eindeutiges, richtiges Schönheitsideal gibt und dass nur derjenige, der die entsprechende Bildung besitzt (welche ?) dieses Ideal in dem Kunstwerk erkennen und es somit verstehen kann. Also implizit eine Wiederholung des alten Vorurteils, dass nur das "Bildungsbürgertum" in der Lage sei klassische Musik angemessen zu genießen.

                              Viele Grüße,

                              Bernd

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