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Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

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    Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

    Der alte Thread ist urplötzlich verschwunden - die Launen des Computers.

    Der Threadtitel: Er bezieht sich auf das erste Stück der Suite für Klavier Childrens Corner von Claude Debussy. Der Stufen-Weg auf den Parnass - den Götterberg - ist hart. Debussy schildert in dieser musikalischen Geburtsanzeige für seine Tochter mit liebevoller Ironie, wie sich das arme Kind mit dem Etüdenwerk von Muzio Clementi (Gradus ad Parnassum - so lautet auch der Titel des hochgelehrten musiktheoretischen Werks von Jophann Joseph Fux von 1725) abmüht. Ich habe das Stück auch selber gespielt - aber natürlich nicht mit der unerreichten uund unerreichbaren Delikatesse und Perfektion von Arturo Benedetti Michelangeli!



    Michelangelis Jahrhundertaufnahmen von Debussy gibt es komplett für 20 Euro:



    Besser noch seine kompletten DGG-Aufnahmen für 35 Euro:



    Mit Michelangelis unvergleichlichen Aufnahmen ist man gleich ganz oben auf dem pianistischen Götterberg - sie sind also der richtige (Neu-)Einstieg für diesen Thread!

    Schöne Ostergrüße
    Holger

    #2
    AW: Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

    Mein mit dem Thread verschwundener Beitrag von gestern:


    Schuberts Zyklus "Winterreise" ist das "klassische" Werk des Kunstklieds. Dietrich Fischer-Dieskau hat dieses wahrlich große Werk mit Maurizio Pollini wohl nur einmal zusammen aufgeführt bei den Salzburger Festspielen 1978 - damals hörte ich die Rundfunkübertragung. Nach 35 Jahren haben sie diesen Mitschnitt nun endlich veröffentlicht.

    Eben habe ich die CD endlich bekommen! Obwohl ich heute mal wieder mit prosaischer Einrichtungsarbeit in der Wohnung beschäftigt bin, so habe ich mir doch einen kurzen Einblick gegönnt. Überwältigend! Da bedauert man es wirklich, nicht bis zum Ende diesem Ereignis lauschen zu können, was ich mir für später aufhebe. Den "Lindenbaum" (Nr. 5) habe ich mir danach auch nochmals in der Paarung Fischer-Dieskau und Jörg Demus angehört. Beide - Jörg Demus als auch Maurizio Pollini - waren Schüler von Arturo Benedetti Michelangeli. Aber wie unterschiedlich sie doch interpretatorisch vorgehen! Während bei Pollini die Musik fließt, kommt es Demus mehr auf die momentanen Schattierungen an. Sein Klavierpart wirkt "statischer", dem Moment verhafteter. Bei Pollini wird das Klavier aufgewertet, bekommt fast schon symphonische Qualität des dramatischen Aufbaus, des sukzessiven Fließens und Drängens. Fischer-Dieskau, der beim "Lindenbaum" die expressive Dramatik voll auskostet, bekommt durch Pollinis Klavierpart deutlich mehr Unterstützung - Demus agiert da wesentlich zurückhaltender. So wirkt alles zusammen deutlich "dramatischer" und überschauberer, die großen, die dramatische Sukzession definierenden Stimmungswechsel kommen klarer heraus. Obwohl auch Demus ein wirklich ganz ausgezeichneter Partner ist, gefällt mir Pollini hier besser: nicht nur klarer im Aufbau, präziser, sondern auch "schöner" - betörend tonschön ist das und zugleich zupackend und von großer dramatischer Verve, wenn es sein muß. Auch Pollini beherrscht die Kunst, den Stimmungswechseln Schuberts äußerst sensibel zu folgen. Eine Partnerschaft mit Fischer-Dieskau auf "Augenhöhe". Das ist nur ein erster Eindruck - das werde ich noch vertiefen.



    Horowitz war zunächst in den 30iger Jahren bei EMI unter Vertrag - die ****s zwangen EMI schließlich dazu, diesen wegen des "Juden" Horowitz zu lösen. Unter dem neuen Label Warner sind nun diese historischen Aufnahmen wieder zugänglich.

    Gerade hier kann man sehr gut die überragende Bedeutung Horowitz´ für die Entwicklung des Klavierspiels des 20. Jahrhunderts nachvollziehen. Horowitz ist eben nicht einfach einer der Vertreter der romantischen Virtuosentradition wie etwa Friedman, Hofmann oder Godowsky, wie es leider immer wieder fälschlich zu lesen ist. Verblüffend neu für die Epoche damals ist die fast schon absolut zu nennende rhythmische Präzision, die Schnörkellosigkeit und Gradlinigkeit im Verzicht auf jede Art von Subjektivismen und Romantizismen - wie "swingend" er gleich zu Beginn den Bach spielt, wie klar, schlicht und ohne Allüren er nicht nur Scarlatti, sondern auch die Chopin-Etüden vorträgt, ohne in Cziffra-Mainier zu virtuos überdrehen! Virtuose Perfektion ist das eine - äußerste lyrische Sensibilität das andere. Horowitz hat die besten Seiten der alten romantischen Virtuosentradition in die Moderne herübergerettet und mit seiner Anschlagsperfektion zugleich neue Maßstäbe gesetzt. Nicht zufällig spielt er aus Debussys abstraktestem Klavierwerk, den Etüden sowie Francis Poulenc. Da wird bruchlos der Übergang von der alten in die neue Zeit vollzogen.

    Schöne Grüße
    Holger

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      #3
      AW: Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

      Zitat von Leo1 Beitrag anzeigen
      Hallo Holger


      Ich bin noch ein zaghafter Classic-Hörer. Was würdest Du mir empfehlen, hier mit dem richtigen einzusteigen?

      Ich höre gerne ein grosses Orchester, auch Solisten mit Klavier, Klarinette, Geige usw..schätze ich sehr. Es sollte nichts schweres sein.
      Was ich gar nicht gerne höre ist, Operette

      Meine vererbte Sammlung besteht zur Zeit aus neun CDs

      Mein Vater hörte früher viel das Klarinettenkonzert von Mozart. So diese Richtung ist nicht schlecht.


      Habe meine CDs auf ein Foto gebannt. Sonst müsste ich zu viel schreiben.

      Bild: http://abload.de/thumb/img_30770kkra.jpg (http://abload.de/image.php?img=img_30770kkra.jpg)

      Warum Classic? Weil ich es mir jetzt mit meiner Anlage leisten kann, auch solches zu hören.

      Habe angefangen "Radio Swiss Classic" aus dem Internet zu hören.

      Es gibt so vieles und für einen Anfänger ist es nicht überschaubar einen guten Einstieg zu finden.
      Hallo Leo,

      das sind schon schöne Sachen, die Du da hast!

      In der oben abgebildeten DGG-Michelangeli-Box findest Du etwa die Beethoven-Klavierkonzerte Nr. 1, 3, 5 und einige Mozart-Konzerte.

      Es fehlt etwa Chopin - wirklich klassisch und unverzichtbar sind die wunderbaren Aufnahmen von Arthur Rubinstein (gibt es z. Zt. für nur 18.99 Euro!):



      Diese Abbado-CD ist wirklich unglaublich schön (für nur 6 Euro zu haben) - das wird Dich bestimmt auch begeistern. Wegen der "Nocturnes" von Debussy wählte Abbado den Beruf des Dirigenten!



      Auch diese CD wird Dir ganz bestimmt gefallen - und ist auch noch fantastisch aufgenommen dazu:



      Die Dvorak-Symphonien mit Vacalv Neumann und der wunderbaren Tschechischen Philharmonie (am bekanntesten ist die 9. "Aus der neuen Welt" (für 37 Euro)):



      Frage ruhig weiter nach! :Z

      Schöne Ostern wünscht
      Holger
      Zuletzt geändert von Gast; 03.04.2015, 10:28.

      Kommentar


        #4
        AW: Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

        Zitat von Holger Kaletha Beitrag anzeigen

        Frage ruhig weiter nach! :Z
        Oder sieh einfach mal in diesen Thread:

        http://www.hififorum.at/showthread.php?t=4107

        Da hatten wir schon mal versucht, etwas zusammen zu tragen.

        VG Bernd

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          #5
          AW: Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

          ich meine immer noch, dass für das urverständnis dessen, was harmonielehre und klassik kann
          BACH
          der ideale einstieg ist, weil alles so klar und verständlich ist.
          irgendwie spielen wir doch alle bach, mehr oder weniger stilistisch entfernt
          aber auf seinem festen grund

          alles andere sind bloß varianten

          FAQ (Frequently Asked Questions) for this videoQ: I appreciate the animated graphical scores you make; how can I help?A: There are many ways you can support ...


          beispiel, was ich meine
          Zuletzt geändert von longueval; 03.04.2015, 14:08.
          ALSregel: besser man kann mehr, als man macht, als man macht mehr, als man kann. (brecht)

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            #6
            AW: Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

            Zitat von B. Albert Beitrag anzeigen
            Oder sieh einfach mal in diesen Thread:

            http://www.hififorum.at/showthread.php?t=4107

            Da hatten wir schon mal versucht, etwas zusammen zu tragen.
            Hallo Bernd,

            Den sollten wir vielleicht wieder aufleben lassen!

            Vom Originalthread, der im Nirvana gelandet ist, habe ich noch diese schöne Mahler-Diskussion auf der Platte (Okt. 2011):



            Zitat von zatopek
            Ich habe ja immer noch gewisse Schwierigkeit mit Gustav Mahler. Früher, als ich noch bedeutend jünger war :wink: , habe ich ihn geliebt. Vor allem die 2. Symphonie mit den Wienern unter Gilbert Kaplan hatte es mir damals sehr angetan. Das war so eine Art "Erweckungserlebnis".

            Heute sehe ich das ein wenig kritischer und die Kaplan - Aufnahme gefällt mir gar nicht mehr so gut. Aber auch insgesamt finde ich Mahler doch recht eklektizistisch und manieristisch. Da sind mir zuviele Hörner, zuviel Pathos, zuviel Jugendstil. Ich höre ihn nicht mehr gerne. Aber das ist natürlich eine Frage des persönlichen Geschmacks.

            Solche Live-Erlebnisse ralativieren immer auch die Einstellung zu Aufnahmen auf der Konserve. Vielleicht hatte Celibidache mit seiner strikten Weigerung, Aufnahmen zu machen, doch recht. Musik ist ein unwiederholbares Erlebnis.
            Hallo Bernd,

            ja, meiner Frau ging es ähnlich wie Dir. Das sei nicht "ihre" Musik - zu viel Extrovertiertheit und Leidenschaft. Das ist natürlich letztlich eine Frage der Musizierhaltung und ein grundsätzliches ästhetisches Problem: Was soll oder will Musik ausdrücken? Mahler zeigt hier ganz offen die Zerrissenheit des Mernschen, das ist sehr modern, hat existenzialistische Züge und geht in Richtung Expressionismus. Wobei man sagen muß, daß Mahler selbst verschiedene Kunststile unterscheidet. In der 3. und 4. Symphonie, deren Grundhaltung nach Mahler der "Humor" ist, gibt es diese extremen Kontraste nicht: da ist alles "ununterschiedenes Himmelsblau". Das ist das Tolle bei Mahler, wie ich finde: Jede Symphonie ist unvergleichlich, eine Welt für sich.

            Der Vorwurf des "Eklektizismus" ist Mahler in bezug auf seine "Themen" immer wieder gemacht worden, die bloße Zitate seien, "geklaut", unoriginell usw. Gerhard liest das Buch von Eggebrecht, der dieses Problem eigentlich sehr überzeugend behandelt: Mahler benutzt die Themen und Melodien wie ein Romanschriftsteller, als "Rohstoffe", die eine gewisse vorgeprägte Idiomatik haben und so mit einer bestimmten Bedeutung besetzt sind, die der Hörer gleich versteht. Mahler will ausdrücklich keine "absolute Musik" schreiben im Sinne des Formalismus von Hanslick, sondern die Symphonie hat einen Weltbezug. Dieser Weltbezug wird eben u.a. durch diese "Vokabeln" gestiftet. Eggebrecht nennt das "Vokabel", weil das bezeichnend keine wörtlichen Zitate sind, sondern oft auf gleich mehrere Quellen verweisen. Die Verwendung dieser Vokabeln ist natürlich hochoriginell, Mahler ist ein unglaublich "strenger" Kompomist, hat selbst eine ganz nuee Gattung der Symphonie geschaffen. Z.B. das Finale der 2., die "Symphonie-Kantate", ist eine musikgeschichtlich einmalige Neuschöpfung. Darüber gibt es einen lesenswerten Aufsatz von Carl Dahlhaus.

            Der Vorwurf des "Manierismus" hängt mit dem Problem der musikalischen Rhetorik zusammen. Mahler ist sehr stark von Richard Wagners musikalischer Hermeneutik geprägt, also den "Neudeutschen", die Musik nicht als bloße Form, sondern Form als Ausdruck eines Inhalts verstehen. Das Schlüsselerlebnis für Liszt und Wagner war Berlioz, die "Fantastische Symphonie". Mendelssohn, der mit Berlioz eng befreundet war, schreibt in einem Brief, was für ein wunderbarer Mensch Berlioz sei, aber diese Symphonie sei einfach abscheulich! Mendellssohn ist von Goethe geprägt, dieser Ausdrucksrealismus mit seinen Exzessen und Übertreibungen war ihm einfach widerlich. Liszt verteidigt Berlioz in einer seiner Schriften. Bei Liszt und Wagner entwickelt sich daraus der Begriff der "charakteristischen Melodie", die muß immer einen ganz bestimmten, "sprechenden" Ausdruck haben. Nicht zuletzt deshalb ist Mahlers oberstes Gebot bei der Orchestrierung die "Deutlichkeit" - auch das kommt von Wagner. Das ist ein eindeutig antiromantischer Zug. Die "charakteristische Melodie" will Ausdruck und nicht Schönheit, deswegen "übertreibt" sie. Das kann man freilich als manieristisch empfinden, die Frage ist, ob man dem Phänomen damit gerecht wird. (In der Diskussion um die musikalische Rhetorik findet man das immer wieder!) Mahler sagt selbst einmal zu seiner Orchestrierung, daß er die Bläser Töne blasen läßt, die sie nur mit Mühe und nicht bequem hervorbringen können, um ihnen diesen gepreßten Ausdruck abzutrotzen. Die gewisse Forciertheit und Übertreibung gehört also zur Ausdrucksgebärde, sonst - das ist die Wagner-Tradition - wird die Melodie als unverbindlich glatt, als eben "nur" oberflächlich schön und nicht bedeutungsvoll empfunden. Wirklich beeindruckend im Finale der 2. finde ich die Dramaturgie, wo Mahler Wagners Auffassung von Musik und Sprache in Musik gewissermaßen wörtlich umsetzt. Wagner spricht von der "Erlösung der Musik durch das Wort". Mahler läßt erst ein Lied ohne Worte erklingen, die Auferstehungsode sehr sprechend, aber wortlos. Und dann "realisiert" der Chor das, was das Orchester schon durch seine Sprechmelodie vorformuliert hat, "erlöst" damit die Sehnsüchte der Musik, indem die Wortmelodie nun nicht mehr nur wie eine Sprache spricht, sondern selber Sprache ist.

            Celibidaches Vorbehalt bezieht sich auf das "Tempo". Für ihn ist das Tempo "absolut" - d.h. nur in einer realen Aufführung kann man es wirklich verstehen, d.h. als "richtig" empfinden. Das ist natürlich ein spannendes Thema!

            Beste Grüße
            Holger

            „Natürlichkeit“ ist etwas, was viele von uns heute schätzen an einem Gesangsstil, das „Künstliche“, „Übertriebene“ dagegen ist uns eher verdächtig, gilt als nicht authentisch. Da hat es ein betont artifizieller Gesangstil oft schwer. Dahinter steckt allerdings ein grundsätzliches Problem der Ästhetik – ob sie sich am Naturschönen oder am Kunstschönen orientiert. Und mit dieser Orientierung wandelt sich auch die Wertschätzung. So war der Barock eine Ästhetik, die den Kunstcharakter der Kunst eigens betonte. Sie wurde im 18. Jahrhundert dann heftig kritisiert von der Empfindsamkeit. Man entdeckte – Rousseaus Kulturkritik, sein „Zurück zur Natur!“, spielte da eine zentrale Rolle – das Natürliche und Einfache einer schlichten Melodie als den ursprünglichen, von keiner gesellschaftlichen Kultivierung „verdorbenen“ Ausdruck der Natur, der natürlichen Empfindung. Das Kunstlose bekommt so einen Eigenwert

            „Daß Poesie keine Effekte machen soll, ist mir klar – Affekten sind etwas Fatales wie Krankheiten.“




            Schöne Ostergrüße
            Holger
            Zuletzt geändert von Gast; 03.04.2015, 15:22.

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              #7
              AW: Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

              Vielen Dank für diese guten Infos. Werde Euch berichten, für was ich mich entscheide und wie es mich anspricht.
              Viele Grüsse Leo

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                #8
                Zum Liszt-Jahr 2011: Pierre-Laurant Aimard: The Liszt Project

                Auch diesen Beitrag aus dem untergegangenen Thread stelle ich wieder ein! (Meine Rezensionen sind nun wieder komplettiert.)



                Von Pierre-Laurant Aimard, der vor allem mit seinen Interpretationen Neuer Musik bekannt wurde und sich erst in den letzten Jahren mit klassisch-romantischem Repertoire einen Namen als universeller Interpret machte, erwartet man kein „normales“ Liszt-Programm und ist beglückt: Da wird Liszt programmatisch gezeigt als der große Innovator und Anreger für die Moderne. Das Programm ist ungemein avanciert, enthalt 2 CDs von jeweils über 70 Minuten Spieldauer zum Preis von einer! Und was für gewichtige „Brocken“ darunter sind: Liszts große H-Moll-Sonate, die Alban-Berg-Sonate, die 9. Sonate von Alexander Sciabin. Eine Platte, die Bezüge herstellen will vorwärts und rückwärts, Musikhören als lebendige Musikgeschichte, der Wandlung und Verwandlung von geistig-musikalischen Ideen. Das ist ihm zweifellos gelungen. Es empfiehlt sich jedoch, das Hören mit der zweiten CD zu beginnen:

                Wirklich verblüffend ist die Verwandtschaft der Klagelieder von Liszt („Aux cyprès de la Villa d´Este aus „Anneés de Pèlerinage Heft III) und Bartok (Nénie op. 9a). Der Liszt-Verehrer Bartok sinniert hier gewissermaßen über Liszt und spinnt daraus seine eigenen musikalischen Gedanken weiter. Es folgt eine der Franziskus-Legenden Liszts (fälschlich im Klappentext als zum Zyklus „Anneés de Pèlerinage“ gehörig angegeben!) – das Thema der Vögel findet dann seine Fortsetzung bei Marco Stroppa und Olivier Messiaen: Romantische Naturreligiosität – in Messiaens Frömmigkeit findet sie ihren Widerhall, bei Stroppa wird sie transformiert in eine rein ästhetische Studie über Bewegungen und Klänge. Auch Liszts berühmtes Wasserstück „Les Jeau d´eau à la Villa d´Este“ fand seinen Bewunderer in Maurice Ravel, das ihn zu seinen „Jeux d´eau“ inspirierte. Auch hier vollzieht sich eine Ästhetisierung der ursprünglich religiösen Idee – die Wasserspiele bei Liszt im Garten der Villa d´Este bei Rom, wo Liszt sich aufhielt, sind Symbol der göttlichen Emanation im christlich-neuplatonischen Sinne: Das Wasser fließt von einer Brunnenschale in die nächste wie der Ausfluss des Seins aus dem ursprünglichen Einen in verschiedenen Seinsstufen, so wie es Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Der römische Brunnen“ ausspricht:

                Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
                Er voll der Marmorschale Rund,
                Die sich verschleiernd, überfließt
                In einer zweiten Schale Grund;
                Die zweite gibt, sie wird zu reich,
                Der dritten wallend ihre Flut,
                Und jede nimmt und gibt zugleich
                Und strömt und ruht.“


                Die Bewegung, das „Strömen“, ist zugleich Ausdruck von Ruhe, des in sich ruhenden göttlichen Seins. Liszts Wasserspiele sind entsprechend kein naiv-naturalistisches, tonmalerisches Wassergeplätscher: Genau diesen kontemplativen Sinn muss der Interpret dieser Musik treffen, sonst verfehlt er die religiöse Dimension dieser Musik. Liszt ist der Erfinder des religiösen Klavierstücks. An den Schluss seines Programms setzt Aimard Liszts Vallée d´Oberman aus dem ersten Heft der „Anneés de Pèlerinage“ und betont (Klappentext) im Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Wolfgang Rathert (den ich letzte Woche in München bei einer Konferenz kennenlernen durfte): Bei Messiaen gehe es „objektivierend“ um die „geordnete“ Natur „als meditatives Erleben der Zeit im Durchschreiten eines Tages, bei Liszt subjektivierend als Ringen des Künstlers mit der Nacht als Symbol des Durchschreitens der menschlichen Zeit.“ Aimard hält hier, was er verspricht. Die Interpretation von Vallée d´Oberman ist der krönende Abschluss des Recitals, eine musikalische Sternstunde! Er verzichtet völlig auf jede Attitüde des Tastenlöwen und bringt die Musik zum „Sprechen“, arbeitet die hochexpressiven Klanggesten heraus. So wird die Musik zum Drama eines Subjekts, das sich zu zerreißen droht zwischen Schwermut und Überschwang. Das ist Liszts Virtuosität in einer Verwandlung in Seriosität, statt dem Rausch zu verfallen bleibt es bei gefasster Innerlichkeit. Bezeichnend wählt er die melodische Ossia-Variante, um den Aufbau des Schlusshymnus nicht allzu prunkend-triumpfal wirken zu lassen. Auch die Interpretationen der Legende wie der Wasserspiele überzeugen durch Aimards Zurückhaltung, der inneren Ruhe, mit der er die atmosphärischen Klänge sich ausbreiten lässt. Dass ihm die „moderne“ Musik des 20. Jahrhunderts liegt, darüber braucht man bei Aimard natürlich kein Wort zu verlieren. Einzig Ravels „Jeux d´eau“ wirkt ein bisschen spröde. Das erlebt man bei der französischen Altmeisterin Monique Haas doch deutlich klangvoller und auch avancierter, „moderner“, was die Herausarbeitung der Bewegungsstrukturen angeht. Aber vielleicht liegt es auch etwas am Flügel?

                Ich habe empfohlen, nicht gleich mit der ersten CD zu beginnen. Denn bei den späten Liszt-Stücken lässt Aimard die Expressivität, welche er in Vallée d´Oberman zu zeigen vermag, nahezu völlig vermissen. Die Trauergondel Nr. 1 wirkt wie der vergebliche Versuch, Liszt zu einem verfrühten Debussy zu machen. Alfred Brendel oder auch Maurizio Pollini spüren in der Bassbegleitung die beunruhigenden Pendelbewegungen auf – die Anklänge einer Berceuse, das Wiegen eines Totenschiffes in unruhiger Wasserbewegung, in dem sich ein verzweifeltes Wühlen des Subjektes verbirgt. Das erscheint doch bei Aimard alles sehr indifferent und ausdruckslos. Ähnlich „Unstern! Sinistre!“ Maurizio Pollini versteht es hier, den Wut und den Trotz, die Verkehrung von Herorismus in Verzweiflung hören zu lassen. Dass davon bei Aimard auch gar nichts zu spüren ist, liegt an der Reduktion der Musik auf Klangflächen, welche ihr jegliche Bewegungsdymamik raubt. Nicht gelungen ist auch „Nuages gris“ („trübe Wolken“), vielleicht das radikalste Musikstück, was Liszt komponiert hat: Eine zur Atonalität tendierende Tritonusharmonik und musikalische Abstraktion, welche die Musik „entsprachlicht“, die Phrasen in einen Wechsel von Tonfarben und Bewegungen auflöst. Die Interpretation kann hier den Weg gehen, dieses musikalische Wolkenbild als ein impressionistisches Stimmungsbild, eine Graustudie in Tönen, zu deuten, wie das bei Maurizio Pollini geschieht. Oder es wird zum existenziellen Ausdruck von Trübsinn und Trostlosigkeit, einer Erstarrung der Zeit, welche keine Zukunft kennt, wo alles gleichsam schon zuende gegangen ist, bevor es anfängt, wie dies Svjatoslav Richters eindringlicher Vortrag zu vermitteln vermag. Aimard fehlt hier offenbar ein interpretatorisches Konzept. Schon das eröffnende Pendelmotiv hat weder Atmosphäre, noch hat es Ausdruck: ein positivistischer, geradezu „dinglicher“ Ton ohne jegliche Kraft an Wirkung und Aussage. Und auch von der dramatischen Teleologie des per aspera ad astra (durch das Dunkel zum Licht), welche Liszt hier andeutet, um sie im Keim zu ersticken und unmöglich zu machen, ist rein gar nichts zu spüren. Die Programmauswahl ist auch hier ungemein aufschlussreich: Eine Klaviersonate von Richard Wagner – ausgerechnet Wagner, dem unerbittlichen Kritiker der Sonatenform, der sie musikdramatisch dynamisiert. Spannend! Auch die Berg-Sonate kann man als Antwort auf „Nuages gris“ hören. Aimards ungemein sorgfältige Interpretation bleibt für meinen Geschmack aber letztlich zu akademisch steif. Da ist Maurizio Pollinis dramatischer Zug mitreißender und auch Glenn Goulds Episierung aussagekräftiger. Die Scriabin-Sonate liegt Aimard, da gibt es „Valeurs“ und die Vorbereitung der Apotheose des Themas, seine Entstehung aus Motivsplittern, wird in ihrer Entwicklung vorbildlich vorgeführt. Und die H-moll-Sonate? Klar und sauber ohne jeden Pomp, stets wachsam und intelligent mit einigen wirklich sehr gelungenen, schönen Momenten. Doch insgesamt fehlt auch hier der „große Wurf“, die Geschlossenheit und die Umsetzung einer poetischen Idee wie auch die letzte Überlegenheit im pianistischen Sinne, über diesen Koloss zu jeder Zeit souverän zu gebieten. In der großen Fuge geht ihm doch etwas die „Puste“ aus. Nein, in die allererste Reihe würde ich diese Vorführung von Liszts Monumentalwerk nicht stellen wollen. Das alles ist jedoch kein Grund, Aimards Liszt-Projekt im CD-Regal stehen zu lassen. Es gibt keine bessere Werbung für den Komponisten Liszt, seine musikgeschichtliche Bedeutung aufzuzeigen mit einer Reihe von seinen wahrlich bedeutendsten Kompositionen. „Hut ab“ vor einem solchen Liszt-Projekt von wirklicher musikalischer Intelligenz!

                Schöne Ostergrüße
                Holger

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                  #9
                  AW: Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

                  Lieber Holger,

                  Mein erstes Post seit Jahren überhaupt - Vielen Dank für Deine tollen Rezessionen - Habe viel dazu gelernt und "meine" Klassik wieder entdeckt ;-)

                  Nochmals ein grosses DANKE und schöne Ostern alle

                  Peter :F
                  Liebe Grüße

                  Peter

                  Kommentar


                    #10
                    AW: Zum Liszt-Jahr 2011: Pierre-Laurant Aimard: The Liszt Project

                    Zitat von Holger Kaletha Beitrag anzeigen
                    „Hut ab“ vor einem solchen Liszt-Projekt von wirklicher musikalischer Intelligenz!
                    Und Hut ab von Dir Holger, für das auch einem Laien wie mir, nicht unverständlich geschriebene.
                    Viele Grüsse Leo

                    Kommentar


                      #11
                      AW: Doctor Gradus ad Parnassum - Gehörtes und Unerhörtes

                      Lieber Holger,

                      Hatte gestern wieder Classic Radio gehört und unter anderem dieser tollen Aufnahme gelauscht. Das Klavier ging so richtig tief in den Bassbereich. Hat mir sehr gut gefallen.


                      Viele Grüsse Leo

                      Kommentar


                        #12
                        AW: Zum Liszt-Jahr 2011: Pierre-Laurant Aimard: The Liszt Project

                        Zitat von Leo1 Beitrag anzeigen
                        Und Hut ab von Dir Holger, für das auch einem Laien wie mir, nicht unverständlich geschriebene.

                        Auch wenn ich Holgers Einlassungen zu technischen Themen machmal belächele, seine Klassik-Rezensionen sind einsame Spitze! Vielen Dank für diese Mühe und hoffentlich bleibst du uns hier auf dieser doch sehr schwurbelfreien Plattform erhalten, trotz des häufigen Gegenwindes in Kabel- und anderen Themen!

                        Netten Gruß

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